Einleitung

Kinder und Jugendliche (KuJ) waren von (in-)direkten Auswirkungen der Coronapandemie vielfältig betroffen. Auch Eltern mussten sich veränderten Herausforderungen stellen: Neben den mit der Pandemie assoziierten eigenen Belastungen fielen auch Entlastungs- und Betreuungsoptionen weg: Reduzierte Kontakte zu Freunden und Großeltern, Schulschließungen und eingeschränkte Sport- und Freizeitmöglichkeiten führten dazu, dass die gewohnte Lebensrealität plötzlich anders bewältigt werden musste [1].

Für Familien mit KuJ, die von chronischen Erkrankungen und somit erhöhten Versorgungsbedarfen betroffen sind, stellte die Coronapandemie eine besondere Herausforderung dar. Grundsätzlich sind für diese Familien die sozialpädiatrischen Versorgungsstrukturen wichtig, die eine Vielzahl von Angeboten aufweisen. Hierzu zählen beispielsweise eine ausführliche medizinische, psychologische und soziale Diagnostik, eine bedarfsgerechte (Früh‑)Förderung der KuJ unter Einbezug von Logo‑, Physio‑, Ergo- oder Psychotherapie, eine Beratung der Eltern zu Erziehungsfragen oder sozialrechtlichen Anliegen, die Koordination und Rücksprache mit anderen Fachleuten und Einrichtungen sowie das Angebot von bedürfnisorientierten Bildungs- und Freizeitmöglichkeiten für die Familien. Diese Versorgungsstrukturen waren für einige Familien in der Pandemie temporär eingeschränkt oder wurden teilweise nicht bzw. verzögert in Anspruch genommen.

Studien deuten darauf hin, dass während der Pandemie vermehrt gesundheitliche Probleme bei chronisch kranken KuJ auftraten [2], das Risiko von Kindesmissbrauch und Gewalt gegen KuJ zunahmen [3] und sich vermehrt negative Auswirkungen auf die Entwicklung und das subjektive Wohlbefinden zeigten [4,5,6]. Zumindest temporär wurde ein Anstieg der Prävalenz von psychischen Belastungen bei Kindern [7] und Eltern beobachtet [8]. Betroffen waren insbesondere KuJ in Familien mit niedrigem sozialen Status, mit komplexen chronischen Erkrankungen und solche, deren Eltern psychische Belastungen zeigten [9]. In der ABCDEF-COOP-Studie zeigte sich, dass aus Sicht von Eltern der Versorgungsbedarf von chronisch kranken KuJ gegenüber nicht chronisch kranken KuJ 3‑mal so oft als ungedeckt erlebt wurde [10]. Besonders galt dies für Selbsthilfegruppen, Rehabilitationsmaßnahmen, schulische Gesundheitsdienstleistungen, Schulungen für chronische Erkrankungen sowie für psychologische Beratung/Psychotherapie [10, 11]. Zudem wurden eine geringere elterliche Lebensqualität sowie vermehrte gesundheitliche Schwierigkeiten und psychische Auffälligkeiten beim Kind berichtet [10]. Auch äußerten diese Eltern mehr Schwierigkeiten beim Zugang zu Fachärzt*innen und Notfallbehandlungen für ihr Kind [12]. Erkenntnisse über mögliche Ursachen für diese Versorgungsunterschiede liegen unzureichend vor. Auch die für Deutschland repräsentative „Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland“ (KiGGS) hat keine Gründe für eine Nicht-Inanspruchnahme von medizinischen Leistungen erhoben [13]. Diskutiert werden, unabhängig von der Pandemie, soziale und sozioökonomische Unterschiede, die mit einem unterschiedlichen Inanspruchnahmeverhalten in Verbindung stehen könnten [14]. Im Zusammenhang mit der Coronapandemie können verschiedene Faktoren von Bedeutung sein: Angst vor Ansteckung, aufwendigere ärztliche Zugangsmodalitäten oder unzureichende Versorgungskapazitäten aufgrund der pandemiebedingten Maßnahmen oder einer bereits vorbestehenden Unterversorgung in bestimmten Bereichen. Insgesamt ist in der Praxis der Eindruck entstanden, dass die bereits vor der Pandemie bestehenden Herausforderungen im Versorgungssystem sich weiter zugespitzt haben, wie beispielsweise lange Wartezeiten für einen Ersttermin in einem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ). Unklar ist bislang, wie die Versorgung von chronisch kranken KuJ mit ohnehin erhöhten Versorgungsbedarfen in der Coronapandemie aus Expert*innensicht im vorwiegend stationären sozialpädiatrischen Bereich verlaufen ist, welche möglicherweise ungedeckten Bedarfe entstanden sind und wie man diese decken kann.

Ziel dieser qualitativen Studie war, insbesondere die stationäre sozialpädiatrische Versorgungssituation und die nachhaltigen Bedarfe von pflegebedürftigen, schwer chronisch kranken und schwerstkranken Kindern, Jugendlichen und ihren Familien in Schleswig-Holstein in Zeiten der COVID-19-Pandemie (2020–2022) aus Sicht von Expert*innen zu erfassen. Weiterhin sollten Handlungsempfehlungen abgeleitet werden, um ungedeckte sozialpädiatrische Versorgungsbedarfe perspektivisch zu verhindern.

Methodik

Studiendesign.

Es wurden leitfadengestützte Expert*innen-Interviews mit verschiedenen beruflichen Expertisen durchgeführt. Der Fokus lag überwiegend auf den SPZ, da hier Kernkompetenzen der Betreuung und Koordination für KuJ vorliegen, die u. a. aufgrund von chronischen Erkrankungen ein erhöhtes Risiko für eine eingeschränkte körperliche und/oder (psycho)soziale Entwicklung aufweisen [15]. Die Leitfäden wurden auf Basis einer aktuellen Literaturrecherche partizipativ mit Mitarbeiter*innen der Klinik für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Campus Lübeck entwickelt.

Rekrutierung.

Die multizentrische Rekrutierung der Expert*innen erfolgte fortlaufend von März bis November 2022 über die 4 SPZ in Schleswig-Holstein (Kiel, Lübeck, Neumünster und Pelzerhaken). Einschlusskriterien waren die Tätigkeit in einem der 4 SPZ oder in einer assoziierten Institution bzw. eine Tätigkeit als niedergelassene Pädiater*innen in Schleswig-Holstein sowie eine schriftliche Einwilligungserklärung zur Studienteilnahme. Zusätzliche Ausschlusskriterien wurden nicht definiert. Die Interviewteilnahme wurde mit 40 € honoriert. Es wurde angestrebt, möglichst heterogene Berufsgruppen zu befragen, um unterschiedliche Sichtweisen abzubilden.

Zielgrößen.

Insgesamt wurden 4 Hauptkategorien mit zugeordneten Subkategorien als Zielgrößen in den Interviews adressiert (Tab. 1). Zusätzlich wurden personenbezogene Angaben der Expert*innen mithilfe eines Kurzfragebogens erhoben.

Tab. 1 Zielgrößen

Auswertung.

Die Interviews wurden mithilfe eines digitalen Aufnahmegerätes bzw. des Videodienstleisters Webex aufgenommen und anschließend wörtlich nach Dresing und Pehl transkribiert [16]. Die Transkripte wurden von 2 Forscher*innen einer mehrschrittigen strukturierten Inhaltsanalyse in Anlehnung an Mayring [17] mit deduktiv-induktiver Kategorienbildung (Mischform) mithilfe der Datenanalysesoftware MAXQDA Plus Version 2022 (VERBI – Software. Consult. Sozialforschung. GmbH, Berlin, Deutschland) analysiert und interpretiert. Ausgewählte Ankerbeispiele (AB) illustrieren die Kategorien.

Ergebnisse

Studienpopulation

Insgesamt wurden 25 leitfadengestützte Expert*inneninterviews geführt, die durchschnittlich 40 min (Min.–Max.: 21–74 min) dauerten und in den Versorgungseinrichtungen (n = 24) bzw. per Webex (n = 1) durchgeführt wurden. Die Stichprobenbeschreibung ist Tab. 2 zu entnehmen.

Tab. 2 Angaben zu den interviewten Expert*innen

Versorgungssituation während der COVID-19-Pandemie

Um die Versorgungssituation während der Pandemie zu illustrieren, sind in Tab. 3 Ankerbeispiele (AB) für alle Kategorien zu finden.

Tab. 3 Ankerbeispiele aus den Interviews mit Expert*innen zur Versorgungssituation während der COVID-19-Pandemie

Versorgungsprozesse, -abläufe und -strukturen.

Alle Expert*innen berichteten von relevanten Abweichungen gegenüber üblichen Versorgungsprozessen, -abläufen und -strukturen. Am häufigsten wurden Kürzungen und Wegfall von Versorgungsangeboten aufgrund neuer Hygienekonzepte oder unzureichend großer Räumlichkeiten benannt. Dies habe die Qualität der Versorgung deutlich eingeschränkt, da diese Angebote besonders auf soziale Teilhabe und Implementierung eines therapieadhärenten Lebensstils abzielen und wichtige Versorgungsbestandteile darstellen. Die Einbindung enger Bezugspersonen in Diagnostik und Behandlung der KuJ musste reduziert werden, u. a. durch eingeschränkte Besuchsregelungen und den Wegfall von Heimfahrten bei stationären Aufenthalten. Dies sei für die Organisation vieler Familien schwierig gewesen. Obwohl die Maskenpflicht überwiegend gut toleriert worden sei, habe diese zu Kommunikationseinschränkungen geführt. Die Umsetzung von Diagnostik‑/Interventionsangeboten (z. B. Logotherapie) sei erschwert und das Risiko für Fehldiagnosen erhöht gewesen (AB 1).

Es wurden neue (Kurz‑)Konzepte entwickelt, Arbeitsprozesse neu organisiert und Arbeitsstrukturen an pandemische Bedingungen adaptiert, um die Versorgung zu gewährleisten (AB 2).

Auslastung/Behandlungskapazitäten im Vergleich zu der Zeit vor der Pandemie.

Im Hinblick auf Auslastung und Behandlungskapazitäten während der Coronapandemie wurden Über‑, Unter- und Fehlbelegungen beschrieben. Drei Viertel der befragten Personen berichteten über temporäre Schließungen der jeweiligen Institutionen zu Beginn der Coronapandemie. Die Belegungskapazitäten wurden reduziert, Aufenthalte und Patientenschulungen (z. B. bei Neueinstellungen von Typ-1-Diabetes) verkürzt. Im Verlauf kam es aufgrund vieler ungeplanter Krankheitsausfälle zu finanziellen Ausfällen und Planungsunsicherheiten (AB 3).

Kooperation/Kommunikation mit anderen Leistungsanbietern.

Die Kooperation und Kommunikation mit anderen Leistungsanbietern wurden als enorm eingeschränkt empfunden. Insbesondere behördliche Einrichtungen seien anfangs schwierig erreichbar gewesen, sodass relevante Abstimmungen erschwert waren. Zudem seien sozialpädiatrische Leistungen eingeschränkt worden (AB 4).

Mehraufwand zur Aufrechterhaltung der Versorgung.

Unter dem Punkt Mehraufwand wurde von allen Expert*innen das Hygienemanagement benannt. Obwohl teilweise extra Personal angestellt wurde, wurden einzelne Mitarbeitende aus Stammteams zum Testen oder Impfen abgestellt und fehlten dadurch in der Patient*innen-Versorgung. Zudem wurde für Planung und Organisation der Einbestellung von Patient*innen aufgrund von kurzfristigen Absagen und Krankheitsausfällen ein immenser Mehraufwand betrieben. Für die Vergabe von kurzfristig zur Verfügung stehenden Terminen wurde auf bestehende lange Wartelisten zurückgegriffen. Dabei wurden Dringlichkeitsentscheidungen nach Aktenlage getroffen. Viel Zeit musste für die Suche und Gestaltung der Räumlichkeiten zur Aufrechterhaltung der Distanzierungsmaßnahmen aufgewendet werden.

Digitale Versorgungsangebote und deren Akzeptanz.

Dreiviertel der Expert*innen nutzten zusätzlich digitale Versorgungsangebote, wobei die Intensität und der konkrete Einsatz unterschiedlich ausgestaltet waren. Als hilfreiche Einsatzbereiche erschienen Beratungs‑, Befund- und Verlaufsgespräche sowie Fortbildungen. Die elterliche Akzeptanz wurde überwiegend als hoch eingeschätzt, da damit lange Fahrzeiten vermeidbar waren (AB 5). Als nicht hilfreich oder sogar inadäquat wurden digitale Erst- und Kennenlerngespräche sowie Diagnoseübermittlungen benannt oder der Einsatz bei unzureichend technisch versierten Eltern (AB 6). Problematisch sei die unzureichende Vergütung von Videoangeboten.

Positive Aspekte und Herausforderungen der sozialpädiatrischen Versorgung.

Auf struktureller Ebene wurde positiv hervorgehoben, dass Video- und Telefonkontakte die interne und externe Abstimmung erleichtern können und nach der Pandemie aufrechterhalten werden sollten. Die Pandemie habe die Digitalisierung im Versorgungsprozess beschleunigt (z. B. WLAN-Abdeckung, zusätzliche Endgeräte, Kenntnisse im Umgang mit Geräten und Software). Der Aufbau eigener frühzeitiger Impfangebote, die Verfügbarkeit von Masken, Schnelltests und gute Hygienekonzepte wurden positiv hervorgehoben. Ferner wurden die ruhigere Arbeitsatmosphäre und Möglichkeit zur sozialen Interaktion als positive Aspekte benannt (AB 7). Als herausfordernd wurde die erhöhte Bürokratie (AB 8) und der Umgang mit verunsicherten Familien beschrieben sowie die Non-Compliance von einigen Familien (AB 9).

Information über neue Coronaregelungen und deren Umsetzung.

Die Information über neue Coronaregeln via Newsletter und E‑Mails habe überwiegend gut funktioniert, war jedoch mit einem erheblichen Aufwand an beständiger Aktualisierung verbunden. Die Umsetzung der Regelungen habe zu erheblichen Anstrengungen geführt und war teilweise mit Sorgen vor Arbeitsstättenschließung und Konflikten unter den Mitarbeitenden verbunden (AB 10).

Inanspruchnahmeverhalten und Zugang

Veränderungen im Inanspruchnahmeverhalten und im Zugang.

Das Inanspruchnahmeverhalten der Familien während der Coronapandemie wurde als heterogen erlebt. Überwiegend gelang es gut, mit Familien im Kontakt zu bleiben, die bereits fest im Versorgungssystem integriert waren. Hierzu wurde ergänzend auf Telefon- und Videokontakte zurückgegriffen. Im Gegensatz dazu verzichteten einige Familien auf stationäre Versorgung, z. B. aus Angst vor einer Coronainfektion, aufgrund von Infektionsschutzmaßnahmen (z. B. eingeschränktes Besuchs- und Heimfahrtrecht, Zutritt nur für ein Elternteil) oder bei organisatorischen Barrieren (z. B. bei eingeschränkter Geschwisterbetreuung). Dies führte zum Teil zu einer nachhaltigen Unterversorgung (AB 11).

Schwierigkeiten beim Krankheitsmanagement.

Alle Expert*innen berichteten, dass sie zwar keine (lebens-)bedrohlichen Schwierigkeiten hinsichtlich des Krankheitsmanagements beobachtet haben, dennoch seien die soziale Isolation und das Verpassen von sozialen Lernchancen ein entscheidender Risikofaktor für eine nachhaltig ungünstige Entwicklung der Kinder gewesen. Ein Experte berichtete zudem von mittel- bis langfristigen negativen Auswirkungen hinsichtlich des Krankheitsmanagements aufgrund von verlängerten Wartezeiten und besonderen Belastungen z. B. bei Kindern mit zystischer Fibrose (AB 12).

Auswirkungen, Belastungen und Ressourcen

Auswirkungen der Coronapandemie auf Eltern/Betreuungspersonen, Kinder und Jugendliche.

Eltern wurden durch die fehlenden Betreuungs- und Entlastungsangebote, Pflege- und Fördermöglichkeiten als sehr belastet wahrgenommen (AB 13, 14, 15). Die Auswirkungen der Coronapandemie auf die KuJ mit chronischen Erkrankungen wurden als heterogen beschrieben. Insbesondere die soziale Isolation und fehlende Möglichkeiten des sozialen Lernens wurden jedoch übergreifend als große Herausforderung benannt (AB 16).

Mögliche Komorbiditäten und/oder Erkrankungen.

Als spezifische psychische Belastungen wurden die Zunahme bzw. Verschiebung von Krankheitsbildern sowie die Chronifizierung von depressiver- und Angstsymptomatik sowie psychosomatischen Störungen benannt (AB 17, 18). Für neuropädiatrische oder orthopädische Erkrankungen wurden Therapierückschritte in der Mobilisierung beschrieben, z. B. aufgrund von zeitverzögerten Prothesenanpassungen bei bestehenden Lieferengpässen (AB 19).

Merkmale von Familien, die gut bzw. weniger gut durch die Pandemie gekommen sind.

Familien, die insgesamt gut durch die Pandemie gekommen sind, zeichnen sich durch intakte familiäre Strukturen, soziale Netzwerke und Hilfesysteme, gute Handlungskompetenzen und ein hohes Selbstwirksamkeitserleben aus. Auf struktureller Ebene spielen ausreichende Wohnverhältnisse (ggf. Garten) eine bedeutsame Rolle (AB 20). Die Familien, die insgesamt weniger gut durch die Pandemie gekommen sind, zeichnen sich durch beengte Wohnverhältnisse, soziale Benachteiligung, inadäquate Unterstützungsangebote, fehlende oder unzureichende elterliche Bewältigungs‑, Handlungs- und Erziehungskompetenzen aus (AB 21).

Auswirkung der Coronapandemie und der Maßnahmen auf das Wohlbefinden der Mitarbeitenden und Coping-Strategien.

Die Belastungen durch die Coronapandemie wurden unterschiedlich stark wahrgenommen. Als Belastungen wurden benannt: die Konfrontation mit eigenen Ängsten und Grenzen, die Trennung von Teams sowie die damit einhergehenden Kommunikations- und Abstimmungsschwierigkeiten sowie Informationsverluste.

Als konkrete Coping-Strategien wurden insbesondere ein Sinnerleben in der Tätigkeit, ein pragmatischer Umgang mit der Situation sowie ein verbessertes Teamgefühl benannt (AB 22, 23). Weiterhin wurden die Aufrechterhaltung der Tagesstruktur sowie die Arbeitsplatzsicherheit positiv erlebt.

Nachhaltige Auswirkungen, Bedarfe und Wünsche

Nachhaltig unterversorgte Risikogruppen.

Als nachhaltig unterversorgte Risikogruppen wurden am häufigsten KuJ mit psychischen Auffälligkeiten und mit psychisch vorbelasteten Eltern benannt (AB 24) sowie diejenigen, die vorpandemisch unzureichend im Versorgungsnetz eingebunden waren oder sich im Transitionsprozess befanden. Als weitere spezifische Risikogruppen mit nachhaltigem Bedarf wurden folgende Gruppen benannt: bildungsferne Familien, Alleinerziehende, Familien mit Migrationshintergrund und Pflegefamilien. Bei Familien mit Migrationshintergrund kam erschwerend hinzu, dass Dolmetscher*innen aufgrund der Distanzierungsmaßnahmen ihrer Begleitfunktion unzureichend nachkommen konnten.

Unterstützungsbedarfe und Abdeckung in der Regelversorgung.

Alle Expert*innen berichteten, dass der pandemiebedingte Mehrbedarf nicht ausreichend durch vorhandene Personalkapazitäten abgefangen werden konnte, zumal einige (ungeimpfte) Mitarbeitende nicht weiter beschäftigt wurden (AB 25). Die vorab schon langen Wartelisten von teilweise über einem Jahr haben sich nach Einschätzung der Expert*innen weiter verlängert. Darüber hinaus sei das Ausmaß der noch ausstehenden Unterstützungsbedarfe derzeit noch unklar (AB 26). Insbesondere für Jugendliche vor der Transition wurden Nachholbedarfe gesehen (AB 27).

Wünsche.

Am häufigsten wurde der Wunsch nach personeller Aufstockung geäußert, um die Arbeitslast der Mitarbeitenden und Wartezeit der Familien zu reduzieren und Nachsorgeangebote sicherzustellen (AB 28). Die Deckelung der Gesamtzahl der SPZ-Überweisungsscheine, auf deren Basis chronisch kranke und pflegebedürftige KuJ und deren Familien in den SPZ behandelt werden, müsste bedarfsgerecht aufgestockt werden (AB 29). Gleichzeitig müssten Vorgaben der Personalplanung in SPZ sich an den Bedürfnissen der KuJ und deren Eltern orientieren und nicht an den Personalvorgaben für Pflegeheime, die eine höhere Anzahl an Pflegekräften nachts erfordern. Dies wurde als wenig sinnvoll erachtet, da die Kinder in den SPZ nachts von den Eltern versorgt werden und die Fachkräfte tagsüber in der Versorgung fehlten (AB 30). Zur Anwerbung von Fachpersonal seien attraktivere Arbeitsbedingungen notwendig. Beispielsweise wurden feste Anstellungsverhältnisse, eine bessere und einheitlichere Vergütung und Fortbildungsmöglichkeiten gewünscht (AB 31).

Angeregt wird, dass die Coronapandemie auch als Chance aufgefasst werden kann, um bestehende Strukturen und Konzepte zu überdenken und zu optimieren (AB 32).

Zusätzliche Ressourcen sollten nicht nach dem Gießkannenprinzip über alle Familien verteilt werden, sondern zielgerichtet für die Versorgung von identifizierten nachhaltig unterversorgten Familien zeitnah verfügbar sein. Zudem müssten individuelle familiäre Merkmale (z. B. lange Anfahrtswege) besser berücksichtigt und aufsuchende Hilfen verstärkt werden (AB 33).

Ferner wurden Aspekte benannt, die nicht nur im Zusammenhang mit Corona stehen, jedoch einen hohen Stellenwert zur Optimierung der Versorgung aufweisen. Hierzu gehören u. a. regelmäßige Fortbildungen, ausreichende Räumlichkeiten und eine verbesserte intersektorale Zusammenarbeit über Bundeslandgrenzen hinweg (AB 34). Neben dem Abbau von Bürokratie (AB 35) wurden verbesserte Nachsorge und Rückkopplung der weiteren Versorgung gewünscht (AB 36).

Diskussion

Das Coronavirus hat Familien mit chronisch kranken Kindern vor besondere Herausforderungen gestellt. Ziel dieser qualitativen Studie war es, insbesondere die stationäre sozialpädiatrische Versorgungssituation während der Pandemie aus Expert*innensicht darzustellen, entstandene Versorgungsbedarfe zu erfassen und Handlungsmöglichkeiten abzuleiten.

Insgesamt berichteten Expert*innen über deutliche Abweichungen der sozialpädiatrischen Versorgung, die insbesondere Zugangsmodalitäten, Anpassungen des Versorgungsangebots und Verkürzungen oder Ausfälle von (Gruppen‑)Angeboten betrafen. Allgemeingültige Regeln für den medizinischen und gesellschaftlichen Bereich passten häufig nicht zur sozialpädiatrischen Behandlung und mussten adaptiert werden. Ähnlich wie bei Erwachsenen mit chronischen Erkrankungen kam es zu Pandemiebeginn teilweise zur verzögerten Inanspruchnahme der sozialpädiatrischen Versorgung aus Sorge vor möglicher Ansteckung [18]. Auch wenn die SPZ-Versorgung zumindest bei bereits gut im Versorgungssystem eingebundenen Patient*innen weitgehend sichergestellt werden konnte, wurde die Gewährleistung eines guten Versorgungsangebots bei Erstvorstellungen und der damit verbundenen Betreuung bislang noch unbekannter Familien als herausfordernd gesehen, ähnlich wie im Erwachsenenbereich [18]. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass insbesondere Familien mit weniger Ressourcen seltener Zugang zur stationären sozialpädiatrischen Versorgung gefunden haben. Ungleichheiten in der Gesundheitsversorgung auch für Patient*innen mit medizinischen und sozialen Einschränkungen sind in der medizinischen Fachliteratur seit Jahrzehnten nachgewiesen [19]. Jeste et al. beschreiben, dass bereits im Mai 2020 36 % der Familien mit Kindern mit neurologischen Diagnosen den Zugang zu Gesundheitsdienstleistern verloren hatten [20]. Eltern von beeinträchtigten Kindern berichten in einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Angewandte Informationstechnik (Fraunhofer FIT) und des „Inclusion Technology Labs e. V.“, Berlin, übereinstimmend mit den Expert*innen unserer Studie, dass es durch die Kontaktbeschränkungen und den Wegfall von betreuerischen Unterstützungsmaßnahmen zu einer Stagnation oder sogar einem Rückschritt in der Entwicklung der Kinder gekommen sei. Eltern selbst fühlten sich allein und überfordert [21].

Es gibt übereinstimmende Hinweise darauf, dass die COVID-19-Pandemie mit einer erhöhten psychosozialen Belastung für KuJ sowie deren Eltern verbunden war. Über die besonderen Auswirkungen auf Hochrisikogruppen von KuJ mit chronischen körperlichen Erkrankungen ist relativ wenig bekannt [22]. Die in den Interviews geäußerte hohe psychische Belastung der Familien deckt sich mit anderen Untersuchungen [23, 24]. Im Rahmen der repräsentativen COPSY-Studie (Corona und Psyche) zeigte sich, dass KuJ in Deutschland, unabhängig von einer chronischen Erkrankung, die COVID-19-Pandemie als mentale Belastung empfunden haben [25]. Gleichzeitig haben sich Wartezeiten auf Psychotherapieplätze weiter erhöht, die bereits vor der Pandemie sehr lang waren. Die Deutsche Psychotherapeuten Vereinigung (DPtV) bestätigte einen hohen Anteil an ungedeckten Bedarfen für kinderpsychotherapeutische Behandlungen [11]. Laut einer Mitgliederbefragung lagen die Anfragen im Juni 2022 um 48 % höher als 2020 und nur einem Drittel der KuJ konnte ein Erstgespräch angeboten werden [11]. Wie in der VOICE-Studie zur psychischen Gesundheit von medizinischem Personal während der COVID-19-Pandemie [26] berichten die interviewten Expert*innen dieser Studie von eigenen psychischen Belastungen und der Sorge vor Ansteckung von vulnerablen Personen. Neben den beschriebenen Belastungsfaktoren betonten die Expert*innen die Bedeutsamkeit eines pragmatischen Umgangs mit der Situation, Humor und Optimismus als Coping-Strategien bei der Arbeit.

Aus den Interviews lässt sich ableiten, dass Familien in der Pandemie unterschiedlich gut sozialpädiatrisch versorgt wurden und bestimmte Familien voraussichtlich längerfristig mit den Nachwirkungen der Pandemie beschäftigt sein werden. Das Ausmaß ist jedoch zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht absehbar. Benötigt werden vor allem Angebote, die individuelle familiäre Merkmale berücksichtigen. Hierzu müssten vermehrt Strukturen und Versorgungsangebote etabliert werden, die schnell und unbürokratisch ankommen. Zwar seien keine akuten Komplikationen aufgetreten, aber stattgefundene Verzögerungen in stationärer Diagnostik bzw. Frühförderung können sich ungünstig auf die Entwicklung auswirken. Zudem haben ungünstige Gesundheitsverhaltensweisen, wie ein sedativer Lebensstil und ungünstige Ernährungsverhaltensweisen, die bereits vor der Pandemie bestanden, weiter zugenommen. Dies deckt sich mit den Ergebnissen einer sozialpädiatrischen Beobachtungsstudie in der Adipositas-Ambulanz im SPZ der Charité – Universitätsmedizin Berlin [27]. Hier wurden erhebliche Steigerungen des Body-Mass-Indexes, eine Verfestigung ungünstiger Verhaltensweisen sowie die Zunahme des Medienkonsums während der Pandemie beobachtet [27].

Zudem war laut Expert*innen in dieser Studie eine Zunahme bzw. Chronifizierung von Verhaltensauffälligkeiten zu verzeichnen. Insbesondere für KuJ, die Zugang zum Versorgungssystem benötigen oder sich in Schwellensituationen befinden, sind zusätzlich unterstützende Angebote erforderlich. Der Übergang von vertrauten Behandelnden der Kinder- und Jugendmedizin in die Erwachsenenmedizin stellt insbesondere bei chronisch kranken Jugendlichen häufig eine herausfordernde Schwellensituation dar.

Insgesamt habe die Pandemie bereits zuvor vorhandene Probleme in der stationären sozialpädiatrischen Versorgung deutlich sichtbar gemacht. Möglicherweise führt die Verknappung von ambulanten Versorgungsangeboten und koordinierter Versorgung neben den steigenden Bedarfen zu einer Verlagerung in den stationären sozialpädiatrischen Bereich. Um nachhaltige ungünstige Auswirkungen der Pandemie im Kontext der sozialpädiatrischen Gesundheitsversorgung zu kompensieren, bedarf es zuverlässiger, langfristig tragfähiger Strukturen mit ausreichend und sinnvoll eingesetzten personellen Kapazitäten, fachlicher Expertise und vernetzten digitalen Anwendungsmöglichkeiten.

Limitationen und Stärken

Ergebnisse aus qualitativen Stichproben sind nicht auf die Gesamtbevölkerung übertragbar. Die Interviews umfassen den Zeitraum des Ausklingens der pandemischen Lage und des Übergangs in ein endemisches Geschehen. Langfristige Folgen der veränderten Versorgungssituation und der verzögerten Inanspruchnahme von Leistungen auf die Entwicklung und das Wohlbefinden von jungen Patient*innen und deren Familien werden erst in der Zukunft sichtbar und müssen daher weiter beobachtet werden, um daraus für zukünftige Krisen oder Pandemien zu lernen. Auf eine sekundäre Quantifizierung der qualitativen Ergebnisse wurde verzichtet, da aufgrund der sehr heterogenen Berufsgruppen bestimmte thematische Aspekte per se nicht oder seltener von bestimmten Professionen benannt werden können.

Es ist gelungen, eine heterogene Stichprobe von Expert*innen aus unterschiedlichen Berufsfeldern und Institutionen (städtisch vs. ländlich), mit unterschiedlicher Berufserfahrung und unterschiedlichen inhaltlichen Schwerpunkten zu rekrutieren, sodass die sozialpädiatrische Versorgungssituation während der Pandemie breit abgebildet werden konnte. Zur Auswertung der Interviews wurde ein deduktiv-induktives Vorgehen gewählt, bei dem zur Qualitätssicherung 2 Interviewer*innen unabhängig voneinander die Auswertungen vornahmen.

Fazit

Obwohl die sozialpädiatrische Versorgung in der COVID-19-Pandemie insgesamt ausreichend sichergestellt wurde, offenbarten sich deutliche Versorgungslücken bei bestimmten Risikogruppen. Daher bedarf es aktuell der zielgruppenspezifischen Bereitstellung von Angeboten für diese Familien zur Generierung von individuellen Hilfeleistungen. Abschließend lässt sich festhalten, dass von den Expert*innen ausreichende und sinnvoll eingesetzte personelle Kapazitäten und generell mehr Behandlungskapazitäten gewünscht werden.