Einleitung

Qualitätssichernde Maßnahmen dienen der Optimierung von Prozessen im Hinblick auf Sicherheit, Effizienz und Wirtschaftlichkeit [1]. Auch in der Human- und Zahnmedizin dienen systematisch entwickelte Handlungsempfehlungen der Entscheidungsfindung, was zu qualitativ hochwertigen und medizinisch angemessenen Behandlungsmaßnahmen führen soll [2]. Um dies zu gewährleisten, sollten klinische Handlungsempfehlungen durch einen zeitnahen Transfer aktueller Forschungserkenntnisse aus der Wissenschaft gekennzeichnet sein [3]. Gleichzeitig sollten die resultierenden Empfehlungen im Sinne dynamischer Prozesse in regelmäßigen Zyklen auf Aktualität und klinischen Wert überprüft werden [1].

Allerdings ist die Bewertung der Qualität wissenschaftlicher Erkenntnisse häufig keine leichte Aufgabe. Mit dem Aufkommen der evidenzbasierten Medizin in den 1990er-Jahren wurde das Ziel verfolgt, publizierte Studiendaten anhand von Evidenzhierarchien zu evaluieren und somit für diagnostische und therapeutische Anwendungen zu gewichten [4]. In der evidenzbasierten Zahnheilkunde werden laut Definition der American Dental Association (ADA) systematisch evaluierte, klinisch relevante wissenschaftliche Erkenntnisse, die den zahnärztlichen und allgemeinmedizinischen Zustand sowie die Vorgeschichte von PatientInnen berücksichtigen, sorgfältig integriert. Dies soll in Anbetracht des klinischen Fachwissens der Behandelnden und der Behandlungsbedürfnisse und -präferenzen der PatientInnen erfolgen [2]. Der Begriff Evidenz beinhaltet die Anwendung epidemiologischer, biometrischer und statistischer Methoden, um professionsbezogene Leistungsniveaus zu definieren und durch die beste verfügbare wissenschaftliche Datenlage zu untermauern [4]. Neben der Bewertung der ärztlichen Qualität sollten Behandlungsmaßnahmen allerdings auch an patientenbezogenen Parametern, wie zum Beispiel Lebensqualität und Zufriedenheit, gemessen werden und darüber hinaus ökonomisch sein [5].

Leitlinien in der Medizin: Historie, Implementierung und Bewertung

Historie der medizinischen Handlungsempfehlungen.

Erste Bemühungen, eine qualitativ hochwertige und gleichzeitig wirtschaftliche Behandlungsweise in Leitsätzen zu propagieren, gehen auf Professor Friedrich Kraus aus der Berliner Charité im Jahr 1924 zurück [6]. Diese Leitsätze waren auf einen zweckmäßigen Umgang mit Arzneimitteln und Verordnungen sowie auf einen ökonomischen Einsatz von personellen Ressourcen fokussiert, während gleichzeitig an eine fachkompetente Aus- und Weiterbildung von ärztlichem Personal appelliert wurde. Aufgrund demografischer und sozialer Entwicklungen wurde in den letzten Jahrzehnten innerhalb der Medizin erneut eine Handlungsnotwendigkeit aufgezeigt, Richtlinien zu entwerfen, um defizitäre Vorgänge zu vermeiden und notwendige Behandlungsmaßnahmen zu ermöglichen [7]. Im Jahr 1962 wurde daher auf Anregung der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie in Frankfurt am Main die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMFFootnote 1) gegründet. Während der Gesetzgeber eine stärkere Evidenz von den Leistungserbringern fordert, ermöglicht die AWMF seit den 1990er-Jahren die Koordination der mittlerweile etwa 190 Mitgliedsgesellschaften [4]. Die Hauptaufgabe der AWMF ist die methodische Betreuung der Fachgesellschaften im Hinblick auf die Zusammenstellung von diagnostischen und therapeutischen Empfehlungen sowie die Bereitstellung der Leitlinien der Fachgesellschaften über das qualitätsgesicherte Leitlinienregister „AWMF online“ [8].

Implementierung von Leitlinien in den klinischen Alltag.

Unter dem Aspekt der Sicherung und Verbesserung der Behandlungsqualität werden im Rahmen eines Leitlinien-Erstellungsprozesses wissenschaftliche Publikationen durch die jeweiligen Fachgesellschaften methodenkritisch evaluiert und zu übersichtlichen und einfach verständlichen sogenannten Leitlinien zusammengefasst [9]. Als wesentliche Kriterien sollten Leitlinien systematisch entwickelte Aussagen beinhalten, die den aktuellsten wissenschaftlichen Kenntnisstand repräsentieren, somit evidente Handlungskorridore für das ärztliche Personal definieren und als Entscheidungshilfen für PatientInnen dienen [4]. Allerdings ersetzen Leitlinien bei Patientenklagen weder Gutachterverfahren [10] noch generieren sie aus juristischer Sicht eine Verbindlichkeit [11]. Daher sind neben fachlicher Qualität und guter Verfügbarkeit der Handlungsempfehlungen auch zusätzliche Strategien der Implementierung in den Alltag erforderlich, um eine Änderung des ärztlichen Routineverhaltens herbeizuführen [12]. Hierzu zählen zum Beispiel die Integration der Handlungsempfehlungen in die medizinischen Dokumentationssysteme sowie die Überwachung der Einhaltung und Wirksamkeit mithilfe von Qualitätsmanagementsystemen [12].

Bewertung der Qualität von Leitlinien.

Es ist bekannt, dass Leitlinien zu einer Verbesserung der Gesundheitsversorgung beitragen können. Allerdings muss mit zunehmender Anzahl publizierter Leitlinien auch die Frage beantwortet werden, ob eine unabhängige, qualitativ hochwertige Datenakquise durchgeführt wurde [9, 13, 14]. Zu diesem Zweck wurden – entsprechend der Redewendung „guidelines for guidelines“ – wesentliche Anforderungen zur Leitlinienerstellung definiert [7]: Neben der zugrunde liegenden Validität und Evidenz der wissenschaftlichen Datenlage sollten auch Alternativmethoden im Hinblick auf Patientenerwartungen und Kostenverhältnisse abgewogen werden [15]. Empfehlungen sollten in leicht verständlicher Terminologie dokumentiert und in planmäßigen Zeitintervallen revidiert werden [7]. Eine suffiziente Reliabilität der Empfehlungen sollte – unter Berücksichtigung spezifischer Ausnahmefälle – reproduzierbare Ergebnisse bei allen Anwendergruppen gewährleisten und die Sichtweisen aller beteiligten Fachdisziplinen berücksichtigen [15]. In Deutschland erfolgt die öffentliche Bereitstellung der mittlerweile sehr zahlreichen Leitlinien über die AWMF, die auch die hierarchische Untergliederung entsprechend der qualitativen Entwicklungsstufen S1, S2 und S3 etabliert hat [4]. S1-Leitlinien basieren auf informellem Konsens selektierter ExpertInnen, sie unterliegen jedoch noch keinem systematischen Evidenz-Entwicklungsprozess und weisen somit eine geringe Legitimation für die klinische Umsetzung auf [9]. Im Kontrast hierzu werden S2-Leitlinien je nach der Gewichtung zwischen Güte der Konsensfindung (S2k) und Evidenzgrad (S2e) unterschieden [4]. Bei der S2k-Leitlinie ist die wissenschaftliche Legitimation (Evidenz) eher gering, auch wenn die Legitimation für die Umsetzung über den Konsens des Gremiums hoch ist [9]. Umgekehrt ist es bei der S2e-Leitlinie, denn hier wird durch systematische Literaturrecherche eine hohe wissenschaftliche Legitimation erreicht, auch wenn bei der Legitimation für die Umsetzung ein eher geringer Konsens vorliegt [4]. S3-Leitlinien stellen die höchste Entwicklungsstufe dar. Hier wurde ein hoher Evidenzgrad durch systematische Literaturrecherche gewährleistet, während gleichzeitig ein hoher Konsensgrad bei dem repräsentativen Gremium erzielt wurde [4, 9].

Erstellung von Leitlinien

Ressourcenintensität als limitierender Faktor.

Die Erstellung von Leitlinien ist sehr ressourcenintensiv und erfordert daher in den meisten Fällen ein hohes Maß an ehrenamtlichem Engagement [16]. Der hohe Zeitaufwand von etwa 2–3 Jahren, der bei der S3-Leitlinienerstellung typischerweise zum Tragen kommt, um die evidenzbasierte, interdisziplinär konsentierte formale Literaturanalyse zu gewährleisten, führt dazu, dass die Anzahl der S3-Leitlinien deutlich geringer ausfällt als die der S2-Leitlinien [17]. Da die Qualitätsunterschiede zwischen S3 und S2 größer sind als zwischen S1 und S2 [17], sollte die Entwicklung von S3-Leitlinien trotz der Ressourcenintensität dennoch stärker gefördert werden. Im Rahmen der systematischen Literaturrecherche könnten zukünftige Suchstrategien durch künstliche Intelligenz optimiert werden, um lückenlose, objektive Suchergebnisse bei der Entwicklung der Suchalgorithmen zu gewährleisten.

Methodik und Mikropolitik als limitierende Faktoren.

Auch bei guter wissenschaftlicher Basis einer Leitlinie wird vermutet, dass starke Vorbehalte hinsichtlich der klinischen Leitlinienimplementierung vorgebracht werden [18]. Eine hohe methodische und fachliche Qualität der Leitlinien ist daher die Grundvoraussetzung, um für Akzeptanz in der klinischen Anwendung der Leitlinien zu sorgen [12]. Darüber hinaus sollte die objektive Benennung von Mitgliedern der Steuerungskomitees erfolgen, wobei alle Ebenen der medizinischen Versorgung bei ausgewogenem Geschlechterverhältnis berücksichtigt werden sollten [8]. Verzerrungen der Objektivität durch Interessenkonflikte oder subjektive Wahrnehmungen einzelner ExpertInnen sollten durch strikte Vermeidung kommerzieller Abhängigkeiten [8] und durch eine qualitativ hochwertige Methodik vermieden werden [19]. Im Hinblick auf die objektive Bewertung der Methodik steht international das Bewertungsinstrument AGREE II (Appraisal of Guidelines for Research and Evaluation) zur Verfügung. Dabei handelt es sich um einen Bewertungsbogen in Form einer Checkliste mit 23 Kriterien die in 6 Domänen gruppiert sind [4]. Anhand dieses objektiven Bewertungsinstruments kann die Qualität einer beliebigen Leitlinie ermittelt werden.

Begrenzte Gültigkeit als Regulativ.

Der beste Schutz vor den oben genannten Limitationen ist die regelmäßige Überarbeitung der Leitlinien, in regelmäßigem Turnus [20], wobei die Überarbeitung idealerweise von externen Expertengremien durchgeführt werden sollte [19].

Leitlinien in der Zahnheilkunde

In der Zahnheilkunde sind Entscheidungshilfen auch in Form von Leitlinien zunehmend verbreitet [21]. Vor allem innerhalb der letzten 10 Jahre wurde eine Vielzahl von zahnmedizinischen Leitlinien etabliert (siehe Tab. 1 für aktuell gültige Leitlinien), die im Onlinearchiv der AWMFFootnote 2 ohne Beschränkungen zugänglich sind [22]. Mit der Einführung der Leitlinien durch die Deutsche Gesellschaft für Zahn‑, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) gemeinsam mit der Zahnärztlichen Zentralstelle Qualitätssicherung (ZZQ) wurden zunächst lediglich 3 Pilotleitlinien erarbeitet. Bei diesen Leitlinien („Fissuren- und Grübchenversiegelung“, „Fluoridierungsmaßnahmen zur Kariesprävention“ und „Operative Entfernung von Weisheitszähnen“) handelte es sich um praxisrelevante, erste Leitlinien in Deutschland, die entsprechend der systematisierten, methodischen Kriterien der AWMF entwickelt wurden [23].

Tab. 1 Zeigt eine Übersicht über die aktuell gültigen Leitlinien mit Erstellungsjahr, aktuellem Stand und Gültigkeit. Leitlinien, deren Gültigkeit durch fehlende Aktualisierung/Überarbeitung bereits verfallen ist, werden nicht berücksichtigt. Die Sortierung erfolgte nach Ablaufdatum in absteigender Reihenfolge. Quelle: [31]

Aufgrund der entscheidungsleitenden jedoch nicht verpflichtenden Funktion sind Leitlinien im Rahmen der systematischen Qualitätsförderung nicht zwangsläufig ein Bestandteil des klinischen Alltags [7]. Aus Studienergebnissen geht hervor, dass Leitlinien, bei denen fachliche Aspekte im Vergleich zu professionspolitischen Einflüssen im Vordergrund stehen, zumeist akzeptiert werden [23]. Nachdem zunächst Pilotleitlinien von der DGZMK gemeinsam mit der ZZQ und den entsprechenden Fachgesellschaften in mehreren Konsensus-Verfahren entwickelt wurden, sind seit Juli 2008 2 Leitlinienbeauftragte in der DGZMK beschäftigt [21]. In der Humanmedizin ist bereits gut belegt, dass Leitlinien grundsätzlich zu einer verbesserten Gesundheitsversorgung beitragen [9, 13, 14]. Welchen Einfluss zahnmedizinische Leitlinien konkret auf die Ergebnisqualität in der Versorgung haben, ist allerdings noch nicht vollständig geklärt [7]. Aktuell sind 44 zahnmedizinische Leitlinien etabliert, von denen 26 Leitlinien die Klasse S3 aufweisen, während 14 S2k-Leitlinien und 4 S1-Leitlinien verfügbar sind (Stand: 05/23).

Insbesondere Studierende könnten von Leitlinien profitieren, da sie wissenschaftlich abgesicherte Handlungskorridore bieten [24]. Ein „blindes Vertrauen“ auf die Übertragung einer „Handlungsschablone“ auf jeden klinischen Fall sollte jedoch nicht erfolgen, da die Individualität der klinischen Situation einen gewissen Handlungsspielraum erfordern kann [25]. Die zahnärztliche Approbationsordnung (ZApprO), die zuletzt am 18.04.2016 geändert wurde [26], beinhaltet die verbindlichen praktischen und theoretischen Ausbildungsinhalte für Studierende der Vorklinik und Klinik. Ein praktischer Bezug im Sinne der „frühen Praxiskurse“ ermöglicht dabei nach eng verknüpfter praktischer und theoretischer Lehre das frühzeitige Erlernen manueller Fertigkeiten [24]. Damit verbunden ist jedoch auch eine ressourcenintensive Lehre sowie das Risiko von Hygienelücken bei Übungen an PatientInnen, sofern die Prozesskontrolle und die Dokumentation nicht vollumfänglich umgesetzt werden können [27]. Dabei zeigt die aktuelle Generation der Studierenden einen großen Wunsch nach enger praktischer und theoretischer Lehre mit viel Feedback, Mentoring und Coaching [24]. Gleichzeitig klagen Studierende der Zahnmedizin über eine hohe Stressexposition, die durch Umsetzung der ZApprO noch weiter verschärft worden sei [28]. Diese hohen Anforderungen an die Lehrenden, die entsprechend der Approbationsordnung im Rahmen der praktischen Kurse zu erfüllen sind, könnten durch Implementierung von Leitlinien bedarfsgerecht unterstützt werden.

Insbesondere im Hinblick auf Lehrinhalte der praktischen Kurse könnten zahnärztliche Leitlinien eine gemeinsame Grundstruktur für die deutschen Universitätsstandorte darstellen, um eine Vereinheitlichung der Behandlungsqualität zu ermöglichen. Durch den freien Zugriff auf Textpassagen innerhalb des elektronischen Leitlinienregisters der AWMF ist es möglich, wissenschaftlich fundierte Basis-Behandlungsstrategien in die studentische Lehre zu implementieren. Dennoch sollte berücksichtigt werden, dass Leitlinien nicht zu eindimensional entworfen werden, um sowohl qualitativ hochwertige Therapieempfehlungen sowie Handlungskorridore in Studierendenkursen und in der Praxis zu gewährleisten.

Ausblick

Um die ressourcenintensive Leitlinienarbeit auch zukünftig bewältigen zu können, empfiehlt die AWMF eine wissenschaftliche Grundausbildung bereits im Studium der Medizin und Zahnmedizin zu verankern [29]. Gefordert wird beispielsweise eine wissenschaftliche Grundausbildung zu implementieren [30] sowie die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses auszubauen [29]. Wie nachhaltig die aktuellen Programme zur Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses für die Leitlinienarbeit tatsächlich sind, kann zum jetzigen Zeitpunkt nur unzureichend bewertet werden [16].