Einleitung

Auf einer Jahrestagung der Arbeitsgemeinschaft Psychoonkologie problematisierte Schulz-Kindermann (2021) in seinem Vortrag den Wirkfaktor der Beziehung in psychoonkologischen Therapien. Trotz vieler Wirksamkeitsstudien zu psychoonkologischen Interventionen gibt es nach wie vor sehr wenig Wissen darüber, was wahrscheinlich einen größeren Teil der Wirksamkeit ausmacht: die therapeutische Beziehung einerseits sowie andererseits die therapeutenbezogenen Faktoren. Die Psychoonkologie könnte sich damit entlasten, mit diesem Nichtwissen in guter Gesellschaft zu sein. Denn auch die allgemeine Psychotherapieforschung hat bisher keine überzeugende Antwort auf die Frage „What works for whom?“ (Roth und Fonagy 2006) und die anhaltende Gültigkeit des Dodo-Vogel-Verdikts gefunden (Wampold und Imel 2015). Als Psychoonkolg*innen könnten wir uns damit trösten, dass es – obwohl wir als Psychoonkolog*innen im Allgemeinen annehmen, dass die therapeutische Technik eine eher untergeordnete Rolle spielt – eine Vielzahl hilfreicher supportiver Ansätze gibt. Diese erweisen sich in unserer täglichen psychoonkologischen Arbeit an einem onkologischen oder Krebszentrum, im Konsiliar- und Liaisondienst am Akutkrankenhaus, in der onkologischen Rehabilitation oder in einer psychoonkologischen Schwerpunktpraxis als nützlich. Glaubt man den Studien, sind zudem die weit überwiegende Mehrzahl der psychoonkologischen Therapien ressourcenorientierte Kurzzeittherapien (Faller et al. 2013), bei denen prozess- und beziehungsorientiertes Arbeiten zwar implizit passiert, aber meist nicht expliziert und für die therapeutische Arbeit konzeptualisiert wird.

Damit sollte man sich aber nicht trösten. Es gibt gute Gründe, sich explizit mit der Beziehung in unserer psychoonkologischen Arbeit zu beschäftigen: Gründe, die mit dem Wir (wir Therapeut*innen und Klient*innen) und uns als Therapeut*innen zu tun haben. Wenn es spezifisch um Fragen nach dem, was Beziehung ist, geht, kommt zudem die Psychoanalyse (die psychoanalytische Haltung und die psychoanalytische Theorie) wieder in den Blick; diese scheint für die psychoonkologische Arbeit aktuell wenig Bedeutung zu haben.

Folgende Fragen leiten die Überlegungen in diesem Beitrag: Welche besondere (therapeutische) Beziehung gibt es in der Arbeit mit Menschen, die an Krebs erkrankt sind und sich (bewusst oder unbewusst) mit dem Sterben auseinandersetzen, und was bedeutet dies für die therapeutische Haltung in der Psychoonkologie? Welchen Beitrag kann die Psychoanalyse bei der Beantwortung dieser Fragen leisten?

Reisen als Beziehungsmetapher

Entlang zweier Texte über therapeutische Beziehungen mit sterbenden Patienten sollen die folgenden Überlegungen entwickelt werden. Der erste ist die Erzählung Die Reise mit Paula von Yalom (2016, engl. 1999); der zweite ist die Falldarstellung „Treatment of a dying patient“ (1963) von Norton (1963, dts. 1968).

Die Reise mit Paula: Bei der Erinnerung an den Titel dieser Erzählung, die vielen sicher bekannt ist, war mir ein Fehler unterlaufen. Ich hatte aus dem bestimmten Artikel Die das Possessivpronomen Meine gemacht. Meine Reise mit Paula ist Ausdruck meines Wunsches, dass diese Reise eine besondere (einmalige) Beziehungserfahrung darstellt, bei der der Erzähler zudem eine sichere Subjekt-Position einnimmt. Es gibt aber noch einen zweiten Fehler der Übersetzung. Im Original heißt der Titel Travels with Paula. Aus Reisen (engl. „travels“) wurde die Reise. Der Fehler in der Übersetzung wiederholt meine Erinnerungsfehlleistung. Was verändert sich, wenn aus Reisen mit Paula „Die Reise mit Paula“ wird? Wortgeschichtlich stammt Reise vom althochdeutschen Wort reisa ab, vgl. auch das englische „rise“, und bezeichnet das „Sich-auf-den-Weg-Machen“ (Wikipedia 2022). Es ist eben gerade nicht die gemeinsame Reise, sondern das Reisen als Prozess: weniger eine teleologische Fortbewegung, das Reisen von einem Startpunkt zu einem Ziel. Eher geht es um einen Aufbruch als transformatorischen Prozess, in dem weniger die Beziehung zwischen zwei Menschen als das Verhältnis der Menschen zu etwas Unbekannten, das Erkunden des Unbekannten, das Ortlose und Suchende eine Rolle spielen. Der Weg ist das Ziel: So trivial und allgemeingültig die Formulierung ist, kommt dennoch in ihr zum Ausdruck, dass die Bewegung des Erkundens den Erkundenden transformiert, verändert. Damit solche Erkundungen aber nicht in Sackgassen oder Abgründen und Katastrophen enden – also traumatisieren oder töten – bedarf es eines kundigen Begleiters. Die meisten Menschen reisen daher lieber nicht allein.

Zur Erzählung: Anfang der 1970er-Jahre trat eine Mitte 50-jährige Frau „namens Paula mit Brustkrebs in fortgeschrittenem Stadium in das Leben“ (Yalom 2016, S. 28) des Ich-Erzählers Yalom. Paula hatte erfahren, dass Yalom eine Therapiegruppe mit unheilbar kranken Patienten gründen wollte. Es gab zunächst ein formloses Arrangement mit regelmäßigen Terminen, aber ohne Bezahlung, während derer „[wir] … über Leben, Tod, Spiritualität, Frieden, Transzendenz … diskutierten; dies waren diejenigen Fragen, die Paula [und mir] am Herzen lagen. Meist sprachen wir über den Tod. Jede Woche trafen wir vier uns und nicht wir zwei in meinem Sprechzimmer – Paula und ich, ihr Tod und meiner“ (Yalom 2016, S. 30). Das Erkunden und gemeinsame Reisen geschieht in einer spezifischen Konstellation, in der Paula begleitet und leitet. Ihr kommt die Aufgabe zu, ihn, Yalom, als „geistliche Beraterin“ „zu erziehen“ (Yalom 2016, S. 33). So entsteht die erste Gruppentherapie für sterbende Menschen als gemeinsames Projekt, welche zwei Besonderheiten hat: a) Die Mitglieder mussten (!) wirklich schwer genug krank sein: „Wir brauchten die zum Tod Verdammten, die […] nur noch wenig Zeit hatten, die Menschen ohne Hoffnung“. (Yalom 2016, S. 39). b) Kein Thema war zu schwierig, um von der Gruppe besprochen zu werden. Nach einer intensiven Phase gemeinsamer Kreativität kommt die goldene Zeit des Reisens mit Paula zu einem Ende, als Yalom beschließt, die einzigartigen Erfahrungen und Erkenntnisse der Gespräche mit Paula und der Gruppe zum Gegenstand eines Forschungsprojektes zu machen. Paula tritt aus der Gruppe aus, und es kommt zu einem langen Kontaktabbruch. Nach über 10 Jahren, die für Yalom durch seine (erfolgreiche) wissenschaftliche und schriftstellerische Arbeit bestimmt sind, findet nach einer zufälligen Begegnung wieder ein persönliches Treffen statt. Das Wiedersehen verläuft distanziert, weniger persönlich, eher wie ein formaler Therapeut-Klientin-Kontakt. Kurze Zeit später stirbt Yaloms Mutter, und nach einem intensiven Angsttraum, in dem er durch seine verstorbenen Familienmitglieder heimgesucht und verfolgt wird, werden für Yalom seine eigene Todesangst und seine Abwehrstrategien – sein Getriebensein (sein Wunsch nach Anerkennung und Erfolg) – erlebbar und bewusst. Er empfindet Dankbarkeit für sein Leben und plötzlich wieder die alte Zuneigung zu Paula und beschließt, seine Freundschaft mit ihr zu erneuern. Paula jedoch hatte nicht auf ihn gewartet: Sie ist inzwischen tot.

Was hier erzählt wird, ist so etwas wie eine Urszene der existenziellen Psychotherapie. Es geht nicht um Paulas (oder Yaloms) Geschichte – psychologisierende Herleitungen fehlen fast vollständig oder werden bewusst dysfunktional dargestellt. Vielmehr werden wir Zeuge der Entwicklung der existenziellen Psychotherapie und von Yaloms therapeutischer Haltung (und Technik) im Kontakt mit sterbenden Klient*innen. Paula ist Kurtisane, Führerin, Co-Therapeutin, Freundin, Geliebte, Kollegin und Patientin; sie ist vieles, aber keinesfalls nur Patientin. Dem entsprechen ein informell gehaltenes, sich änderndes Setting (keine Bezahlung, keine klaren oder vielmehr wechselnde Vereinbarungen und Regeln) und eine lange Beziehungsdauer. Immerhin beschreibt die Erzählung einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren. Die Beziehung zu Paula ist von Gegenseitigkeit und dem Anspruch nach Authentizität geprägt (wir erinnern uns an die mutuelle Psychoanalyse Ferenczis: mit dem Rollentausch von Patient*in und Therapeut*in), aber auch von einem Moment des Verfehlens, welcher jeder Beziehung inhärent ist. Paula stirbt allein.

Es geht um Begleiten, weniger um Behandeln. Das setzt die Bereitschaft der Therapeut*innen voraus, auch sich verändern zu lassen (und den Patient*innen damit die Führung anzuvertrauen) und versteht die Therapie als kokreativen Prozess, in dem etwas gemeinsam erschaffen wird. Die ganze Erzählung enthält viele Details persönlicher und professioneller Entwicklung: Sie ist Autofiktion der Genese des Therapeuten Yalom und damit auch ein Dokument der Selbstöffnung. Die Bereitschaft zur Selbstöffnung der Therapeut*in bedeutet, neben der Offenlegung der Prinzipien der Therapie und der Offenlegung der gegenwärtigen Situation (das Arbeiten an und mit der Übertragung), auch die Offenlegung wichtiger persönlicher Ereignisse im Leben der Therapeut*in, soweit sie der Entwicklung der Patient*innen dienen. Das bedeutet aber, sich mit der schwierigen Frage einer Notwendigkeit zur Grenzüberschreitung (in Therapien) sowie den damit verbundenen behandlungstechnischen und ethischen Problemen auseinanderzusetzen. Denn davon handelt Reisen mit Paula auch: von Verwicklungen, Grenzüberschreitungen, intensiven (Beziehungs‑)Erfahrungen sowie dem Scheitern von Beziehungen und den damit einhergehenden offenen Rechnungen.

Bedeutung der therapeutischen Haltung

Selbstöffnung ist eine Haltung, aber auch eine therapeutische Technik, die sehr mit den unbewussten Prozessen der Therapeut*in zu tun hat. Auf einer nichtbewussten Ebene, die Gleichwohl ein Gespür, eine Ahnung („reverié“) für den richtigen Moment voraussetzt, geht es darum, sich zu öffnen und die Patient*in einzuladen, den psychischen Raum der Therapeut*in kennenzulernen. Hier soll nicht näher auf den Unterschied zwischen Mitgefühl und Empathie eingegangen werden, vielmehr werden die Begriffe hier weitgehend synonym verwendet. Es kommt hier mehr auf die verschiedenen Phasen des intersubjektiven Prozesses an: „Der empathische Prozess kann sich entfalten, wenn wir uns in ein anderes Leben vorstellend einfühlen und die innere Welt des Patienten aus seiner Perspektive erleben, und wenn wir unser Verstehen von dem, was wir erleben, dem Patienten in einer Weise zur Verfügung stellen, die den Patienten einlädt, unser Verstehen zu verbessern, zu klären oder zu korrigieren im Kontext unserer eigenen Subjektivität“ (Geist 2013, S. 276). Diese Beschreibung eines intersubjektiven Prozesses hat große Ähnlichkeit mit dem psychoanalytischen Konzept der projektiven Identifizierung (von Klein, Bion & Money-Kyrle; Weiß und Frank 2007). Patient*innen schreiben ihrem Gegenüber psychische Zustände zu, die sie nicht haben wollen beziehungsweise nicht integrieren können (abgespaltene psychische Zustände, nichtsymbolisierte Affektanteile). Dieses auf die Therapeut*innen Projizierte wird in uns hineingelegt, dringt in unseren psychischen Raum ein, unterliegt einer Modifikation, bevor es in transformierter Form als Baustein zur Symbolbildung zur Verfügung gestellt und wieder reintrojiziert werden kann. In Bions Theorie von „container/contained“ ist dieser Prozess der projektiven Identifizierung nicht nur ein psychischer Abwehrvorgang, sondern zunächst ein allgemeines intersubjektives Modell psychischer Entwicklung, in dem unbewusste intrapsychische Zustände mittels eines affektiven intersubjektiven Prozesses transformiert werden. (Bei Money-Kyrle dient das Modell zur Analyse von Behandlungsproblemen und therapeutischen Sackgassen.)

Was in diesem Modell nicht ausgeführt wird, ist der Veränderungsprozess, den die Therapeut*in durch die Patient*in durchläuft, denn das Modell wirkt in beide Richtungen (die Projektionen der Patient*in und die Projektionen der Therapeut*in). Ebenfalls wird nicht betrachtet, was passiert, wenn das in die Therapeut*in Projizierte nicht wieder an die Patient*in zurückgegeben werden kann, wenn etwa die Patient*in verstirbt und das Projektil in der Therapeut*in verbleibt?

Beziehungsarbeit mit sterbenden Patienten

Was ist das Besondere der Arbeit mit sterbenden Patient*innen, und welche besonderen Anforderungen an Therapeut*innen leiten sich daraus ab? Was wird von Sterbenden projiziert und in Therapeut*innen deponiert, ggf. transformiert? Welche Art von „Objektbeziehung“ stellt sich her?

Es gibt eine lange Diskussion darüber, was das Phänomen Angst beziehungsweise die Todesangst sei. In der Psychoanalyse wird Todesangst (klar unterschieden vom Todestrieb) im Bezug zum Objektverlust gedacht: Todesangst ist die Angst vor dem Verlust eines schützenden Objekts (Freud 1991). Der Prozess der Krankheit und des Sterbens mit Einschränkungen der Autonomie, zunehmender Abhängigkeit, drohender Auflösung des Selbst und des Körperselbst (der körperlichen Umhüllung) aktiviert stark regressive Beziehungswünsche nach einem schützenden Objekt (nach dem Vorbild der primären Beziehung zur Mutter). Der Psychoanalytiker Eissler (1978, deutsche Ausgabe) hat 1955 das bemerkenswertes kleine Buch The psychiatrist and the dying patient (Der sterbende Patient: zur Psychologie des Todes) geschrieben. Darin sieht er als wesentliches Element der Arbeit mit Sterbenden eine besondere „Gabe des Therapeuten“. Die Gabe besteht darin, dass die Therapeut*in sich als mütterliches Objekt zur Verfügung stellt. Der Terminus Gabe deutet aber an, dass es ein Mehr, ein Etwas ist, das über die soziale Transaktion der therapeutischen Beziehung hinaus von der Therapeut*in gegeben wird. Zur Verfügung stellen meint, dass sich Therapeut*innen in die Verfügung der Patient*innen stellen, sich also in weit stärkerem Maße als sonst in Therapien gebrauchen lassen, um eben diese schützende Hülle, das Pallium, für die Patient*innen zu bilden. „Schließlich resultieren bei manchen Patienten viele Probleme, die in der Behandlung von sterbenden Patienten auftreten, wie Verleugnung, Angst, Depression, verstärkter Narzissmus und Apathie wahrscheinlich aus dem aktuellen oder antizipierten Objektverlust und sind auf gar keinen Fall intrinsischer Teil der psychologischen Antwort auf den Tod“ (Norton 1963, S. 559; im Folgenden dt. Übersetzung durch den Verfasser).

Fallberichte mit Sterbenden sind selten. Psychoanalytische Fallberichte mit Sterbenden sind sehr selten. In „Die Behandlung einer sterbenden Patientin“ beschreibt die Psychoanalytikerin Norton (1963, dts. 1968; zeitweilig eine Mitarbeiterin von Rene Spitz) die Begleitung der bei Erstkontakt 32-jährigen Frau B., verheiratete Mutter zweier Söhne im Alter von 5 und 9 Jahren, die an fortgeschrittenem metastasiertem Brustkrebs erkrankt war. Im Erstgespräch schilderte Frau B. suizidale Gedanken und Ängste, ausgelöst durch den Rückzug ihrer Angehörigen (vor allem des Ehemanns und der Schwester) und Freunde, die mit der Intensität der Gefühle, die Frau B. in ihnen auslöste, überfordert waren. Für diese war Frau B. „in vielerlei Hinsicht bereits tot oder hatte sich mit dem Sterben zu lange verspätet“ (Norton 1963, S. 545). An die Stelle der wichtigsten Bezugspersonen tritt die Therapeutin. Zwischen ihr und Frau B. stellt sich eine intensive positive wechselseitige Übertragung ein. Die psychische Symptomatik von Frau B. (ihre phasenweise Depressivität und phasenweisen Ängste) wird von der Therapeutin nicht als Ausdruck eines neurotischen Konflikts oder Strukturdefizits verstanden, sondern als Folge des erlebten oder antizipierten Objektverlusts in der Situation des Sterbens. Das primäre Therapieziel ist fortan, den „Tod der Patientin weniger einsam und ängstigend zu machen“ (Norton 1963, S. 546). Der Bericht dieser gemeinsamen Zeit der Therapeutin und Frau B. umfasst gut drei Monate und ist in vier Abschnitte gegliedert: Anfangsphase; erste Regression: Externalisierung des Über-Ich und Identifikation; zweite Regression: Externalisierung des Ich; dritte Regression: Introjektion (und Tod).

  • Anfangsphase: Die psychische Situation der Patientin wird normalisiert. Es gibt die Übereinkunft zwischen beiden, dass keine Behandlung stattfindet, aber das Sprechen über das Erlebte hilfreich sein kann. Entsprechend ist die Therapeutin „someone“ (Norton 1963, S. 545), jemand, den die Patientin gefunden hat und mit dem sie sprechen kann, der zufälligerweise auch noch Ärztin und – schlimmer noch – Psychotherapeutin ist. Die Kontakte finden täglich, in der Praxis, im Krankenhaus, zu Hause, abhängig von der körperlichen Verfassung und dem Bedarf der Patientin statt. Die Therapeutin ist für Frau B. zu jeder Zeit erreichbar, so lange, wie die Patientin es braucht. Auch hier – wie bei Reisen mit Paula – nehmen die gemeinsamen (philosophischen) Erkundungen zu Tod und Sterben viel Raum ein. Ein formales Behandlung-Setting scheint es nicht zu geben. Die philosophischen Erkundungen sind Teil einer nonhierarchischen Beziehung – genauso wie der Tausch, das Ausleihen von Büchern und Gedichten. Frau B. beginnt, über ihre Ängste vor dem Alleinsein zu sprechen, und über ihre Trauer, die Menschen zu verlassen, die sie am meisten liebt und von denen sie sich geliebt fühlt. Nach dem Frau B. wegen erhöhten Hirndrucks, bedingt durch eine Metastase, aus einem mehrtägigen Koma erwacht, kommt es zu einer ersten Regression.

  • Erste Regression (Externalisierung des Über-Ich und Identifikation): Die starke Einschränkung der Autonomie aktiviert Aspekte der frühen Mutter-Übertragung. Frau B. benötigt und erhält häufig körperliche Pflege, Berührungen und wird von ihrer Therapeutin gefüttert. Neben den kindlichen Wünschen taucht plötzlich intensiver Neid in der Übertragung auf. Frau B. äußert Fantasien, dass die Therapeutin gesund, viel jünger und attraktiver als sie sei und vermutlich nach ihrem Tod ihren Mann heiraten und die Pflege ihrer Kinder übernehmen werde. Die aggressiven Neidgefühle sind eine Zeit lang so stark, dass der Abbruch der Beziehung droht. Gleichzeitig ist Frau B. schwärmerisch mit ihrer Therapeutin identifiziert und fantasiert intensiv den Alltag von Janice Norton in allen Aspekten aus.

  • Während eines weiteren Krankenhausaufenthalts kommt es durch den Verlust des Sehens zu einer zweiten Regression (Externalisierung des Ich). Der Therapeutin kommt nun die Aufgabe zu, für Frau B. alles zu beschreiben, was sie um sich herum sieht: den Verlust der visuellen Welt der Patientin durch mütterliches Erzählen zu ersetzen, das zugleich deren Anwesenheit (durch Stimme und Berührungen) erforderlich macht. Zu lange Zeiten der Abwesenheit führen zu intensiver Angst, der die Therapeutin mit einer vermehrten Verfügbarkeit und Anwesenheit begegnet.

  • Kurz vor dem Tod kommt es zur dritten Regression (Introjektion). Frau B. stellt sich nun nicht mehr vor, wie es wäre, Janice Norton zu sein, in dem sie die verschiedenen Aspekte ihres Lebens imaginiert: Sie entwickelt das intensive Gefühl, dass Janice Norton mit/in ihr sei, was zugleich mit dem Erleben von starker innerer Beruhigung und Gelassenheit einhergeht. Es entsteht so etwas wie ein Phantasma, dass die Therapeutin immer mit ihr ist und sie begleitet. Frau B. kann dabei durchaus zwischen dem Gefühl des kontinuierlichen Mit-Seins und der Tatsache, dass dies objektiv nicht der Fall ist, unterscheiden. In dem letzten Gespräch vor dem Tod sagt sie: „… ich werde Sie schrecklich vermissen, aber auf eine Weise weiß ich, dass Sie immer da waren“ (Norton 1963, S. 556). Sie bittet darum, dass die Therapeutin ein rotes Kleid als Geschenk annimmt, welches sie sich während ihrer Krankheit gekauft, aber nie getragen hat.

Behandeln und/oder Begleiten?

In diesem Fallbericht wird das Sterben als Prozess des stufenweisen Objektverlusts (Verlust einer aktuellen Liebesbeziehung, des Ehemanns, der Schwester, der Söhne und schließlich der Therapeutin) dargestellt; er wird von Trauer und von (Trennungs‑)Angst begleitet. Dieser Verlust wird in der therapeutischen Arbeit einerseits reflektiert und erlebbar gemacht, andererseits betrauert und durch die therapeutische Beziehung stufenweise substituiert. „Die Behandlung dieser Patientin kann einfach als Prozess zusammengefasst werden, in dem die Therapeutin der Patientin hilft, den Objektverlust abzuwehren, in dem die Entwicklung einer regressiven Beziehung zur Therapeutin gefördert wird, die den Objektverlust verhindert“ (Norton 1963, S. 557).

Es geht darum, Patient*innen zu helfen, den Objektverlust abzuwehren und zu bewältigen (im Sinne eines gelungenen Abschieds) oder den Objektverlust durch die Ermöglichung einer regressiven Beziehung zu versuchen zu verhindern. Die meisten Psychotherapeut*innen werden zustimmen, dass in der psychoonkologischen (beziehungsorientierten) Arbeit mit sterbenden Patient*innen beides erforderlich ist (Küchenhoff 2017; Pinsky 2014).

Ich frage mich aber, ob es hier nicht einen grundsätzlichen Unterschied gibt und zwei unterschiedliche Vorstellungen vom Sterben sowie, damit einhergehend, zwei unterschiedliche therapeutische Haltungen und Anforderungen an das therapeutische Arbeiten? Im ersten Fall bewältigen Patient*innen letztlich die Arbeit des Sterbens für sich, und Therapeut*innen unterstützen dabei, begleiten Patient*innen in einer innerpsychischen Transformation und Entwicklung in der Sterbephase. Dieses Vorgehen entspricht dem supportiven Behandeln. Im zweiten Fall wird dieser psychische Zustand des Sterbens vorrangig durch das Angebot einer regressiven Beziehung und der Arbeit in der Übertragung dieser Beziehung abgemindert. Hierfür möchte ich den Begriff des Begleitens (existenzielle Psychotherapie) wählen. Je nach theoretischer Orientierung gibt es andere Begriffe für das gleiche Konzept. Beispielsweise entspricht meines Erachten die Auffassung des Behandelns in der intersubjektiven, relationalen Theorie der Psychoanalyse weitgehend dem hier verwendeten Konzept des Begleitens (Slavin 2016; Stolorow 2007; Wolson 2005).

Schlussfolgerungen

Das Angebot einer regressiven Beziehung und der Arbeit in der Übertragung dieser Beziehung stellt besondere Anforderungen an uns als Therapeut*innen. Diese beiden auf den ersten Blick höchst unterschiedlichen Fallerzählungen beziehungsweise -berichte (Yaloms Reisen mit Paula und Nortons „Behandlung einer sterbenden Patientin“) haben doch auf den zweiten Blick eines gemeinsam: Sie skizzieren eine spezifische therapeutische Haltung, die ein mutuelles Moment in der Beziehung zwischen Therapeut*innen und Patient*innen betonen, die Bereitschaft zur Selbstöffnung, zu Selbstveränderung und zur Grenzüberschreitung und zur gegenseitigen Aneignung. Aus Therapeut*innen werden Phantasmen; aus Patient*innen werden Texte. Beziehungsorientiertes psychoonkologisches Arbeiten ist nur als Gratwanderung zwischen dem Eigenen und dem Fremden möglich. Das ist aber auch eine in einem etwas anderen Sinne höchst gefährliche Methode, deren Gefahren (aufseiten der Therapeut*in beispielsweise Burn-out, aufseiten der Patient*in beispielsweise Grenzverletzung/Missbrauch) wir als Psychoonkolog*innen (Onkolog*innen, „Palliative-care“-Tätige et cetera) oft zu wenig im Blick haben. Hier kann die Psychoanalyse für die Psychoonkologie ein hilfreiches Instrumentarium der beziehungsorientierten Selbstwahrnehmung und -reflexion sowie Einfühlung zur Verfügung stellen, um das Gleichgewicht bei dieser Gratwanderung nicht zu verlieren. Es gilt aber auch umgekehrt, dass zumindest die psychotherapeutische Weiterbildung gut daran täte, angehenden Psychotherapeut*innen regelhaft die Erfahrung und begleitete Reflexion eines therapeutischen Prozesses mit einer sterbenden Patient*in zu ermöglichen.