Einleitung

Kratom und dessen Produkte werden in den USA zunehmend konsumiert. Teilweise erfolgt der Einsatz auch zur Selbstmedikation von chronischen Schmerzen. Es ist nicht auszuschließen, dass Kratom in Deutschland an Popularität gewinnt, insbesondere da es einfach und vergleichsweise kostengünstig über das Internet bezogen werden kann. Deswegen ist es sinnvoll, Kratom unter schmerztherapeutischen, aber auch suchtmedizinischen Aspekten vorzustellen.

Kratom bezeichnet die aus dem Kratombaum (Mitragyna speciosa) und dessen Blättern gewonnenen Substanzen. Traditionell wurden die Blätter im südostasiatischen Raum als Tee konsumiert [5]. Allerdings sind derzeit auch andere Formen, wie Pulver oder Extrakte, verfügbar [5]. Diese können beispielsweise auch in Gelatinekapseln gepresst sein. In Thailand ist die Substanz seit 1946 verboten [5]. In Deutschland unterliegt sie unserem Kenntnisstand nach derzeit weder dem Betäubungsmittelgesetz noch dem Neue-Psychoaktive-Stoffe-Gesetz. In der juristischen Einschätzung handele es sich laut einem Urteil des OLG Köln (11.09.2015) nicht um ein Arzneimittel [12].

In den USA wird die Anzahl an Bürgern mit Kontakt zu Kratom auf ca. 4–5 Mio. geschätzt [30]. Dort ist aufgrund zunehmender Meldungen von Intoxikationen von einer steigenden Anzahl an Konsumenten auszugehen [22]. Die Gründe für den Konsum sind vielschichtig. Neben der Anwendung als Rauschmittel erfolgt auch der Einsatz zur Selbstmedikation bei chronischen Schmerzen, Depression, Angststörungen, posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) und auch im Rahmen selbstgeleiteter Opiatentzüge [10]. In einer amerikanischen Onlineumfrage vom Oktober 2016 unter 8049 Konsumenten von Kratom gaben rund 66 % der Konsumenten an, Kratom gegen akute bzw. chronische Schmerzen zu verwenden [2].

Es gibt bereits die ersten Kollegen im deutschsprachigen Raum, die in einer Kasuistik von einem Patienten berichten, der Kratom als „natürliche“ Alternative bei einer chronischen Schmerzsymptomatik wählte [19]. Kratom bezog dieser Patient über das Internet [19]. Die Kasuistik deckt sich mit unserer Einschätzung, dass sich Kratom wegen seiner leichten Verfügbarkeit über das Internet in Zukunft auch bei Patienten mit chronischen Schmerzen in Deutschland verbreiten könnte.

Methodik

Es erfolgte eine Recherche bei PubMed für den Suchzeitraum von 01.01.1950 bis 15.01.2021 mit dem Begriff „Kratom“. Es erfolgte eine weitere Eingrenzung der Suche per „Kratom“ und „Pain“, sowie „Kratom“ und „Pain“ im Titel. Wie in Abb. 1 dargestellt, wurden irrelevante Ergebnisse aussortiert.

Abb. 1
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Ergebnisse der Recherche. aSonstige Literaturstellen: Editorials, Leserbriefe oder Kommentare, aber auch pharmakologische Versuche außerhalb klinischer oder präklinischer Studien

Wir haben versucht durch das Studium der übrig gebliebenen Literatur nachfolgende relevante Bereiche zu beleuchten: „pharmakologische Aspekte“, „Wirkung auf die Psyche“, „Abhängigkeit“, „Risiken“ und „Schmerz“.

Ziel der Auswahl war es, eine für Schmerztherapeuten praxisrelevante Übersicht der aktuellen Literatur über „Kratom“ zu erhalten.

Darstellung der Ergebnisse der Recherche

Schmerz und Kratom

Die acht eng eingegrenzten Literaturstellen enthalten vier Fallberichte bzw. Fallserien. Es wurde die Selbstmedikation eines Patienten mit chronischen Schmerzen nach Calcaneusfraktur beschrieben. Im geschilderten Fall entwickelte sich eine Abhängigkeit mit der Notwendigkeit einer Entzugsbehandlung [19]. Außerdem gibt es einen Fallbericht über eine Selbstmedikation eines Opioidabhängigen, der unter chronischen Schmerzen, Angst und Depressionen litt. Die Selbstbehandlung verschlimmerte im Verlauf die Symptomatik und führte zur Notwendigkeit einer Entzugsbehandlung [4]. In einem anderen Fall wurde von einer Leberschädigung mit Anstieg der Transaminasen und des Bilirubins sowie einem Pruritus bei Selbstmedikation im Rahmen von LWS-Beschwerden berichtet [21]. Andere Kollegen berichteten von der erfolgreichen Selbstmedikation eines Patienten in Bezug auf COVID-19-Folgen, d. h. insbesondere von Muskelschmerzen und Abgeschlagenheit, durch die kurzzeitige Einnahme von Kratom [18]. Eine Querschnittsstudie mit 170 erfahrenen Konsumenten von Kratom berichtete beim Absetzen von Kratom vom Auftreten von moderaten bis schweren Schmerzen und moderaten bis schweren Schlafstörungen [25]. Eine randomisierte, placebokontrollierte, verblindete Studie mit 26 eingeschlossenen Probanden, die chronische Kratomkonsumenten waren, zeigte, dass die Einnahme von Kratom zu einer Zunahme der Schmerztoleranz führte [28]. Ein Versuch im Tiermodell lässt auch vermuten, dass Kratom eventuell einen positiven Effekt auf durch Chemotherapie induzierte Allodynie haben könnte [9].

Bei einem Review der verfügbaren Literatur konnten die Autoren aufgrund des bestehenden Mangels an Evidenz keine Empfehlung für Kratom als Analgetikum geben [13].

Letztlich kann die Frage, ob Kratom sich in allen Aspekten als Analgetikum eignen würde, anhand der bislang verfügbaren Literatur nicht valide beantwortet werden. Unsere durch die Recherche gewonnene Erkenntnis deckt sich daher mit aktuellen Aussagen anderer Autoren [16, 23].

Pharmakologische Aspekte

Kratom enthält zahlreiche Alkaloide, deren mengenmäßig größten Anteil Mitragynin und 7‑Hydroxy-Mitragynin darstellen [8]. Genaue Angaben zum Gehalt der einzelnen Alkaloide sind leider nicht immer möglich, da es sich um ein Naturprodukt handelt. So spielt hier beispielsweise die Sorte, aber auch die Saison des Anbaus eine Rolle [17].

Mitragynin wird je nach Autor eine agonistische oder auch partialagonistische Wirkung auf die µ‑Opioidrezeptoren zugeschrieben [8] sowie eine dem Morphin ähnliche analgetische Potenz [13]. 7‑Hydroxy-Mitragynin habe im Vergleich hierzu die ca. 10-fache analgetische Potenz von Morphin [13].

Die Wirkung von Kratom auf µ‑,δ- und κ‑Opioidrezeptoren ist zusammenfassend komplex und von teils gegensätzlichen Erklärungsmodellen geprägt [8].

Die Indolalkaloide Mitragynin und 7‑Hydroxy-Mitragynin sollen im Rahmen ihrer Rezeptorbindung G‑Protein-vermittelte Signalwege aktivieren, ohne gleichzeitig den β‑Arrestin-vermittelten Signalweg zu aktiveren, was nicht zu einer Atemdepression führen sollte [13]. Dem sind allerdings die klinische Beobachtung von letalen Intoxikationen bei sehr hohen Plasmakonzentrationen von Mitragynin [6] und das in sehr hohen Dosierungen zu beobachtende Opioid-Toxidrom gegenüberzustellen [8]. Dies schränkt die zuvor genannte theoretische Unbedenklichkeit in der Praxis ein.

Die Halbwertszeit von Mitragynin wird in der Literatur mit 23 h angegeben [29].

Pharmakologische Wechselwirkungen sind ebenso nicht auszuschließen. So fungiert Mitragynin als Inhibitor einzelner Untertypen von CYP450, wie z. B. CYP2D6, CYP2C9, CYP1A2 und CYP3A4 [30]. Überdies wird eine Inhibition verschiedener UDP-Glucuronosyltransferasen angenommen, darunter auch UGT2B7, deren Substrate z. B. Buprenorphin, Ketamin, aber auch Morphin und Hydromorphon sind [8, 26]. Es besteht somit bei der Einnahme von Kratom durchaus ein gefährliches Interaktionspotenzial, wie beispielsweise bei Schmerzpatienten, die Kratom zur Ergänzung ihrer bisherigen Schmerzmedikation verwenden möchten.

Umfangreiche arzneimittelrechtlich notwendige Studien zur Sicherheit und Dosierung bestehen bei diesem Naturprodukt nicht. Hierüber sollte der Patient informiert werden.

Wirkung auf die Psyche

Kratom wird in niedriger Dosierung eine stimulierende Wirkung nachgesagt [27]. In hoher Dosierung soll es sedierend wirken [27]. Einige Konsumenten nutzen es zur Verbesserung ihrer Stimmung, andere zur Leistungssteigerung. Der Konsum soll auch mit Entspannung und Anxiolyse einhergehen [27]. Man kann folglich bei Kratom von einer psychotropen Substanz sprechen. Es ist daher nicht auszuschließen, dass Patienten mit bestimmten Persönlichkeitseigenschaften oder traumatischen Erlebnissen in der Vorgeschichte eine höhere Affinität zu Kratom entwickeln als andere Patienten. In der eingangs bereits erwähnten amerikanischen Onlineumfrage von Oktober 2016 gaben rund 65 % der Konsumenten an, Kratom zur Behandlung psychischer Probleme zu nutzen [2]. Dabei wurden auch geschlechtsspezifische Besonderheiten beobachtet. Der Gebrauch von Kratom unter Frauen war beim Vorhandensein von bipolaren Störungen, Angststörungen, Depressionen oder PTBS wahrscheinlicher [2]. Bei Männern bestand eine statistische Assoziation mit dem Vorhandensein eines ADHS [2].

Abhängigkeit

Für die Diagnose einer Abhängigkeit gemäß ICD-10 gelten definierte Kriterien. Für das Vorliegen einer Abhängigkeit müssen mindesten 3 der 6 in Tab. 1 genannten Kriterien innerhalb der letzten 12 Monate vorgelegen haben. Sie müssen mindestens einen Monat lang aufgetreten sein. Falls sie kürzer als einen Monat auftraten, so müssen sie wiederkehrend innerhalb eines Zeitraums von 1 bis 2 Monaten zusammen aufgetreten sein ([11]; Tab. 1).

Tab. 1 Übersicht der möglichen Kriterien einer Abhängigkeit

In der Literatur werden für Kratom und dessen Konsum zahlreiche Beispiele für negative Folgen, die auch die Kriterien der Abhängigkeit widerspiegeln, beschrieben. Dazu gehören eine Toleranzentwicklung beim Konsum, Entzugserscheinungen beim Absetzen des Präparats und auch ein drängendes Verlangen [27].

Die Entzugserscheinungen ähneln denen des Opiatentzugs. Sie beinhalten u. a. Abgeschlagenheit, Zittern, Muskelkrämpfe, Muskelschmerzen, Schlaflosigkeit, Angst, Anspannung, Übelkeit, Schwitzen, Diarrhö, Erbrechen sowie Rhinorrhö [27].

Allerdings soll sich die Symptomatik im Vergleich zu einem Opiatentzug in einer milderen Form präsentieren [27].

Die Einschränkungen, die in der S3-Leitlinie „Medikamentenbezogene Störungen“ bezüglich der Diagnosestellung Abhängigkeit z. B. für Opioidanalgetika gestellt werden, gelten für Kratom nicht, da es sich nicht um ein zugelassenes Arzneimittel handelt und eine fortgesetzte Therapie unter ärztlicher Kontrolle aktuell ausscheidet [7].

Risiken

Neben den bereits beschrieben Risiken einer Abhängigkeit, den Interaktionen mit unterschiedlichen Pharmaka und dem Risiko von Intoxikationen bei Überdosierung gibt es zusätzliche Risiken, die sich zumindest teilweise mit dem nichtpharmazeutischen Vorgehen bei der Herstellung und dem Vertrieb erklären lassen.

Unter Krypton beispielsweise wurde ein Kratomprodukt vertrieben, welchem O‑Desmethyltramadol beigefügt war, welches dadurch nachweislich für 9 letale Intoxikationen verantwortlich war [14]. Auch wurde in der Literatur über eine intrazerebrale Blutung wegen des Zusatzes eines Phenylethylamins, welches eine sympathomimetische Wirkung hat, berichtet [20].

Gleichzeitig gibt es Berichte über Verunreinigungen mit Salmonellen oder Schwermetallen [8].

Diese Beispiele zeigen, dass ein Produkt, welches kein zugelassenes Arzneimittel ist, für den Anwender nicht unerhebliche Risiken birgt. Diese Risiken beinhalten die Wirkstoffmenge, Zusammensetzung, Qualität des Produkts, aber auch die Unkenntnis über die genaue Dosierung des Produkts und die jeweiligen Wechselwirkungen mit Arzneimitteln. Jede dieser Problematiken kann für sich genommen zu gesundheitlichen Schäden führen. Zusätzlich gibt es in der Literatur Berichte über schwerwiegende Leberschäden im Zusammenhang mit Kratom [24]. Qualitativ hochwertige Studien zu dieser Problematik fehlen allerdings noch. Ergänzend zu den bisher genannten Risiken wurden auch letale Intoxikationen bei extremen Überdosierungen bzw. Mischintoxikationen beschrieben [6]. Akute Intoxikationen können sich in einem umfangreichen und teils durch andere Substanzen überlagerten Mischbild zeigen [15].

Nicht ganz auszuschließen ist unserer Meinung nach auch, dass gerade die Konsumform von Kratom als „Tee“ über die Zeit hinweg das Risiko einer für den Konsumenten unbemerkten bzw. unbewussten Dosissteigerung birgt. Denkbar wären hier einerseits höhere Mengen an Alkaloiden durch die Verwendung einer größeren Menge Kratom oder andererseits eine Veränderung der Ziehzeit des „Teegemischs“. Gerade Letzteres scheint nicht trivial, da noch wenig über die tatsächliche chemische Stabilität der Alkaloide von Kratom bekannt ist [1]. Beide Änderungen der dosisrelevanten Parameter könnten dem Konsumenten nicht bewusst sein. Die Sorglosigkeit könnte unserer Meinung nach gerade durch die mögliche Assoziation von Kratom mit einem „Kräutertee“ verstärkt werden.

Alle diese Risiken bzw. Unklarheiten sollte man dem Patienten offen kommunizieren.

Diskussion

Perspektive

Chronische Schmerzpatienten wenden sich auch alternativen Heilverfahren zu [3]. Schmerzpatienten erhoffen sich hier von „natürlichen“ und „rein pflanzlichen“ Wirkstoffen, wie Kratom, mittelfristig eine neue Perspektive.

Das pharmakologische Wirkprofil von Kratom ist in der Theorie vielversprechend [13]. Wir raten im Behandlungsalltag allerdings zu einer arzneimittelrechtkonformen Darreichungsform dieser Substanz, um für den Patienten, aber auch den Behandler größtmögliche Sicherheit zu gewährleisten. Diese Darreichungsform ist derzeit jedoch noch nicht vorhanden, sodass wir einem therapeutischen Einsatz von Kratom außerhalb etwaiger arzneimittelrechtlicher Zulassungsstudien kritisch gegenüberstehen. Überdies sind uns bisher keine guten klinischen Studien über Kratom als Analgetikum bezüglich Wirksamkeit, Sicherheit und pharmakologischer Evidenz u. a. von Dosis-Wirkungs-Beziehung bekannt. Das vom Patienten eingenommene vermeintliche „Wunderkraut“ entspricht einer pharmakologischen Therapie mit all ihren Risiken und Nebenwirkungen. Dies kann im Gespräch mit dem Patienten zu Kontroversen führen. Die Fixierung eines Patienten auf eine neue Substanz ist in jedem Fall sowohl aus schmerztherapeutischer als auch aus suchtmedizinischer Sicht problematisch. Die Aufklärung eines Patienten über potenzielle Risiken mit Aufzeigen alternativer oder möglicher Begleittherapie ist daher unabdingbare Aufgabe des Therapeuten.

Fazit für die Praxis

  • Kratom ist in Wirkung und Nebenwirkung ein potentes Arzneimittel, allerdings ohne arzneimittelrechtliche Prüfung oder Zulassung.

  • Im Rahmen leichter Verfügbarkeit von Kratom über das Internet ist eine zunehmende Verbreitung unter Schmerzpatienten denkbar.

  • Die Vertriebswege, Herstellungsmethoden und Darreichungsformen von Kratom bieten für den Anwender Risiken.

  • Über Interaktionen und Wechselwirkungen mit anderen Pharmaka ist noch wenig bekannt.

  • Manche Konsumenten nutzen Kratom auch zur Behandlung psychischer Komorbiditäten.

  • Es besteht ein Suchtpotenzial.

  • Bei einigen Patienten wurden Leberschäden beschrieben.

  • Im Rahmen von Wechselwirkungen oder Überkonsum wurden letale Intoxikationen beschrieben.

  • Bei „pflanzlichem“ Pulver oder Tees gegen Schmerzen, die Patienten über das Internet bestellen: An Kratom denken!