Einleitung

Angefangen hatte alles mit einem kleinen Projekt am großen Kernforschungszentrum CERN. Weil das an der Grenze und damit zum Teil in der Schweiz und zum anderen Teil in Frankreich lag, erschwerten die unterschiedlichen nationalen Netzwerke den Informationsaustausch zwischen den Instituten. Deshalb suchte der britische Physiker und Informatiker Tim Berners-Lee nach einer gemeinsamen Sprache der Systeme. Die angefragten 50.000 Schweizer Franken mit dem Ziel der Verbesserung der Wissenschaftskommunikation wurden bewilligt. Mit 4 Softwareingenieuren und einem Programmierer entwickelte Berners-Lee in mehreren Schritten etwas, das er ursprünglich Mesh (Gitternetz) taufte, das dann aber zum World Wide Web wurde – ein System von Hypertextdokumenten, die in einer gemeinsamen Sprache beschrieben wurden und untereinander verlinkt werden konnten [1].

Die Revolution setzte ein, als 1991 der Verbund von Rechnernetzwerken, das Internet, der Öffentlichkeit patent- und lizenzfrei zur Verfügung gestellt wurde. Der Aufstieg der digitalen Plattformunternehmen, der arabische Frühling [2] oder Wikileaks [3] wären ohne das Internet nicht denkbar. Mittlerweile ist es nicht mehr nur ein Kommunikationskanal, sondern Grundlage einer der umfangreichsten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Transformationen seit Erfindung der Dampfmaschine – der Datenökonomie.

Digitale Technologien bestimmen mehr denn je das Leben – sie verändern und prägen Wirtschaft und Kultur, Politik und Gesellschaft sowie Wissenschaft. In bisher ungekannter Weise verdichten und beschleunigen sie die Entwicklung dieses Planeten bis zu einem Punkt, wo es darum geht, dessen Überleben zu sichern – neue Optionen zu finden angesichts von Ressourcenknappheit und Klimawandel und weiteren Herausforderungen. Diese ungeheure Dynamik konnte erst im letzten Jahrzehnt des vergangenen Jahrtausends einsetzen, als die Erstarrung zwischen West und Ost sich löste und zunächst einem multifokalen Denken Platz machte. Komplexität und dynamische Systeme eroberten die Wissenschaft und digitale Technologien vernetzten nun die Welt – über alle physischen Grenzen und mentale Ideologien hinweg. Ihr Fokus wandelte sich von Optimierung hin zu Analyse, Innovation und Gestaltung.

Jetzt wird die nächste Stufe der Revolution gezündet: Im Internet der Dinge verschmelzen die physische und die digitale Welt. Sensorik, Software, 5G, Edge-Computing und die Cloud-Technologie bilden die technische Basis dafür: Die physische Welt kann nun auf der Basis von digitalen Informationen – Daten – „smart“ betrieben werden. Das reicht weit über die bisher angestrebte Optimierung durch Daten hinaus – es ermöglicht ganz neue Werteversprechen, wie beispielsweise saubere Luft, bessere Gesundheit oder pünktliches Reisen. Die spanischen Hochgeschwindigkeitszüge AVE, entwickelt von Siemens, schaffen es, durch datenbasierte Prozess- und Wartungsoptimierung zu 99,8 % pünktlich zu sein. Das führt nicht nur zu einer Auslastung von 75 % (die Fernzüge der Deutschen Bahn erreichten 2019 im Vergleich nur magere 56 %) und macht die spanischen Reisenden zu zufriedenen Kunden, es kurbelt auch das Exportgeschäft an – denn der eigentliche Wettbewerbsfaktor ist nicht mehr der Zug, sondern das datenbasierte Know-how, mit ihm Pünktlichkeit zu erzeugen [4]. Sie stellen den Nutzen für den Menschen in den Vordergrund. Das betrifft die zentralen Themen des 21. Jahrhunderts, wie Gesundheit, Nachhaltigkeit, Klimawandel und lebenswerte Städte. Der digitale Wandel geht rasant vor sich und nimmt durch technischen Fortschritt, geopolitische Dynamiken und die Transformation der Wertschöpfung an Geschwindigkeit zu.

Auf dem Digitalgipfel 2020 wurde Kanzlerin Merkel gefragt, wie die Digitalisierung 2030 ihrer Einschätzung nach aussehen werde. Sie antwortete, dass sie davon ausgehe, dass digitale Technologien dann noch viel stärker als heute das Leben prägen werden. Dass sie hoffe, dass wir bis dahin gelernt hätten, mit den sozialen Medien besser umzugehen, um uns nicht nur in unseren eigenen Meinungsecken aufzuhalten und Zeit zu verlieren, sondern wieder konstruktiver zu diskutieren. Und dass sie selbst in 10 Jahren, wenn sie 76 sei, gerne in einem autonom fahrenden Auto unterwegs wäre [5].

Das Statement der Kanzlerin erinnert daran, dass Technologie und Digitalisierung viele Fragen aufwerfen, aber zugleich auch entscheidende Lösungen bieten. Die Diskussion um die gesellschaftlichen Folgen wird intensiv und kontrovers geführt [6,7,8,9,10]. Dabei zeigt sich: Die Gestaltung der Digitalisierung ist eine der wichtigsten wirtschaftlichen, sozialen und politischen Aufgaben für diese Dekade. Dabei werden jene Staaten die Entwicklung prägen, die die Technologieführerschaft haben.

Es kommt darauf an, wie Technologie genutzt wird. Die Digitalisierung ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel, um zentrale wirtschafts- und gesellschaftspolitische Ziele zu realisieren. Dafür braucht es also nicht nur Investitionen, sondern auch Klarheit in Zielen, auf der Basis einer gesellschaftlichen Konsensbildung zu den zugrundeliegenden Werten. Grundlage der Gestaltung unserer Zukunft sind politische und soziale Entwicklungen, die einander überlagern. Im Folgenden wird die zentrale Rolle von digitalen Geschäftsmodellen und Technologie im Wettbewerb der Nationen diskutiert. Die zentrale These ist, dass das Verschmelzen der physischen und digitalen Welt die Grundlage auf Chancen für Lebensqualität und Wertschöpfung mit sich bringt.

Digitale Geschäftsmodelle und Zukunft der Wertschöpfung

Datenbasierte Geschäftsmodelle stehen im Zusammenspiel von physischer und digitaler Welt im Zentrum. Mehr denn je zählt Schnelligkeit in Umsetzung und Skalierung. Moderne Technologien und ihre Adaptionsgeschwindigkeit verändern die Wertschöpfung und sind die Grundlage von Wettbewerbsfähigkeit und Lebensqualität. Innovation wird zur Haupttriebkraft der Wirtschaft, Nachhaltigkeit zum wichtigsten Thema des Planeten. Neue Formen des Wirtschaftens, diskutiert unter Begriffen wie Stakeholder Capitalism [11], sind durch eine weltweite „For Future“-Bewegung um die junge Schwedin Greta Thunberg weiter in den Fokus gerückt und durch die Erfahrungen mit der Covid-19-Pandemie verstärkt worden. Gleichzeitig schafft die Geopolitik zunehmend neue digitale Räume mit ökonomischen und politischen Grenzen (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Elemente der Wettbewerbsfähigkeit. (Quelle: Accenture)

Geopolitische Dynamiken

In nur 30 Jahren hat sich die Welt nicht zuletzt aufgrund digitaler Technologien völlig verändert – sie ist schneller geworden, vernetzter, vielfältiger, aber auch kontroverser. Das Ende der Phase der geopolitischen Blöcke hat nicht lange angehalten: Schon bahnt sich ein neuer Systemwettbewerb an, zwischen den USA und China. Auf dem digitalen Weltwirtschaftsforum im Frühjahr 2021 warnt der chinesische Präsident Xi Jinping vor einem neuen „Kalten Krieg“ der Ideologien [12]. Doch auch wenn es anfangs vor allem um Handel, Zölle und Sicherheitspolitik ging – wird immer deutlicher, dass das Rennen als Ziel den technologischen Vorsprung hat, denn dieser wird über die Zukunft des Planeten bestimmen, über wirtschaftlichen Erfolg und politische Macht. Es geht also um das Internet der Dinge, Quantum Computing [13] und künstliche Intelligenz [14]. Gerade der wird eine zentrale Rolle zugeschrieben, so der russische Präsident Putin: „Wer in diesem Bereich die Führung übernimmt, wird Herrscher der Welt“ [15].

Und noch etwas verändert sich: Wirtschaftlicher Erfolg basiert zukünftig nicht mehr auf herausragender Einzelleistung eines Unternehmens, sondern auf der Digitalisierung von Wertschöpfungsnetzwerken, in denen Tausende von Unternehmen zusammenarbeiten. Der nationale und internationale Wettbewerb spielt sich zwischen diesen digitalen Ökosystemen ab [16]. Wie einflussreich aber ist die europäische Wirtschaft in diesem Szenario noch?

Zentral ist dabei die Frage, auf Basis welcher Daten digitale Technologien entwickelt werden können. Der Kampf darum beginnt gerade und „das Hauptschlachtfeld wird Europa sein“ [17], so EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2020. Hier hatte er die USA und China als Kontrahenten gleichermaßen im Sinn.

Technologie im Fokus

Was sind die entscheidenden technologischen Bausteine, die darüber entscheiden, ob Wirtschaft und Gesellschaft sich in der digitalen Ära entfalten können? Und wo steht Deutschland in diesem globalen Wettlauf um ihre Verfügbarkeit und verantwortungsvolle Nutzung? Im B2C-Bereich dominieren die amerikanischen und chinesischen Plattformunternehmen und haben hier einen Vorsprung, der nur schwer aufzuholen ist. Im B2B-Bereich aber kann Europa aufgrund seines tiefen Verständnisses der physischen Welt noch vorne mitspielen, hier hat es mehr Bausteine der Digitalwirtschaft realisiert als bei B2C.

Insgesamt aber kann Europa nur in einzelnen Gebieten mit den USA und China mithalten. Es hakt vor allem an den Cloudinfrastrukturen, die für den Aufbau von Ökosystemen, für Transfer und Skalierung unerlässlich sind. Neue Technologien wie die Cloud, künstliche Intelligenz und Techniken wie 3‑D-Druck, Blockchain [18] oder autonomes Fahren werden wachsenden Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft nehmen. Entscheidend ist Geschwindigkeit und Ausrichtung der Adaption.

Der Lebenszyklus der Technologie

Die Nutzung und Verbreitung von Technologie lässt sich über Adaptionszyklen, sogenannte S‑Kurven, verstehen, die Phasen und Kernprozesse transformativen Wandels abbilden. Sie beschreiben die Verläufe der Adaption von Ideen und Technologien über einen Zyklus von 4 Phasen: die Entstehung, das Wachstum, die Reife und schließlich die Ablösung. Die Adaption hat die Form einer S‑Kurve im Zeitverlauf (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Cloud-S-Kurve. (Quelle: Accenture)

Das Konzept geht zurück auf den amerikanischen Kommunikationswissenschaftler Everett M. Rogers, der seine Theorien zur Diffusion bereits in den 1960er-Jahren vorlegte [19]. Als Diffusion bezeichnete er den Prozess, durch den eine Innovation im Laufe der Zeit unter den Teilnehmern eines sozialen Systems kommuniziert wird. Entscheidend ist; wir müssen Technologie und ihre Nutzung immer zusammendenken, denn Technologie ist kein Zweck, sondern ein Mittel. Vier Voraussetzungen beeinflussen die Verbreitung einer neuen Idee: die Innovation selbst, Kommunikationskanäle, Zeit und ein soziales System.

Die Bedeutung von Narrativen

Es sind also weder der Grad der Vollkommenheit noch die Raffinesse von Technologien, die für ihre umfassende Verbreitung sorgen. Vielmehr geht es um ihren erlebbaren Nutzen und um die Geschichten, die diesen Nutzen vermitteln und verbreiten. Deren Richtung und Tonalität sind pfadabhängig und resultieren aus der Historie, dem Vertrauen in politische Institutionen und den daraus resultierenden Narrativen. Die Narrative zum Nutzen von Technologie variieren stark zwischen unterschiedlichen Ländern [20]. So befragte ein World Value Survey rund 71.000 Bürgerinnen und Bürger nach ihrer Zustimmung zu der Aussage: „Wissenschaft und Technik machen unser Leben gesünder, leichter und angenehmer.“ In 2020 stimmten nur 18 % der Deutschen vollständig zu, 20,8 % unter den Amerikanern und 37,2 % unter der Russen. In China jedoch waren es 41,8 % der Befragten.

Die sozioökonomische und politische Bedeutung von Narrativen wird mittlerweile in zahlreichen wissenschaftlichen Disziplinen diskutiert. Eine Gruppe von Verhaltensforschern und Soziologen aus den Niederlanden und Österreich haben ihre Bedeutung für soziale Innovationen und Wandel herausgearbeitet. Die „Narratives of Change“ schaffen eine Perspektive auf eine alternative und bessere Zukunft. Ohne diese sind soziale Innovationen nicht möglich [21]. Sie bilden einen gemeinsamen Wertekatalog ab, sind eine zentrale Grundlage der Politikgestaltung und gehen in Gesetzgebung und Regulierung über [22]. Auch in der Wissenschaft bilden Narrative die Grundlage für die Entstehung und Vermittlung von Wissen [23].

Im Management legen Narrative die Grundlage der Legitimitation von Führungskräften und ihren Entscheidungen [24]. Der Wirtschaftsnobelpreisträger Robert Shiller hat sich mit der ökonomischen Macht der Narrative auseinandergesetzt und mithilfe epidemiologischer Modelle auch ihre Verbreitung beschrieben [25]. Wie mächtig sie sind, hängt vor allem von ihrer Überzeugungskraft ab.

Narrativen kommt also eine entscheidende Bedeutung in der Gestaltung von Wirklichkeit zu. Entscheidend für die Durchsetzung von Technologien ist, dass ihr Nutzen für den Menschen als bessere Lebensqualität erlebbar ist und als Geschichte erzählt werden kann.

Der digitale Betrieb der physischen Welt

Im digitalen Zeitalter verschwimmen die Grenzen zwischen physischen Produkten und der virtuellen Welt. Die Daten, nun entscheidender Teil der Wertschöpfung, entstehen während der Produktion von Anlagen, Maschinen und Geräten, vor allem auch im Betrieb, wenn diese miteinander vernetzt sind. Bisher wurden Daten vor allem zur Optimierung genutzt, etwa zur vorausschauenden Wartung. Bei einem „smarten“ Betrieb der physischen Welt wird aber nicht nur der Nutzen existierender Produkte verbessert. Die Auswertung laufender Betriebsdaten ermöglicht Innovation – ganz neue Produkte und Dienstleistungen und damit neue Formen der Wertschöpfung. Viel wichtiger werden also nun neue Leistungsversprechen. Dieses Potenzial führt dazu, dass vor allem plattformbasierte Geschäftsmodelle vielfältiger und insgesamt an Bedeutung zunehmen werden.

Es braucht also einen „Operate“-Ansatz, der die Produkte und Anlagen ständig beobachtet, optimiert und nachkonfiguriert, wenn sie im laufenden Betrieb sind. Ein Betriebssystem für Fahrzeuge, Maschinen und Produkte kann auf den Märkten der Zukunft für die Hersteller überlebenswichtig werden. So wird in der Automobilindustrie schon deutlich, dass die Wettbewerbsfähigkeit künftig davon abhängt, wer Innovationen als Updates über das Internet in das Betriebssystem der Autos einspielen kann – also „over the air“. So können nicht nur Fehler in der Software korrigiert, sondern auch neue Services in Form von Software-Updates verkauft werden. Tesla lebt dieses Geschäftsmodell bereits vor, andere folgen. Wie der Kapitalmarkt diese Vorreiterrolle in den neuen Technologien honoriert, zeigt die Marktbewertung von Tesla. Sie lag Mitte Dezember 2020 mit rund 600 Mrd. US-$ weitaus höher als die Bewertungen von Volkswagen, Daimler und BMW zusammen.

Die Differenzierung im Wettbewerb wird künftig immer stärker über den digitalen Betrieb der Produkte erfolgen. Dabei wird die physische Welt als digitale Leistungskette abgebildet. Zum traditionellen Qualitätsversprechen „Made in Germany“ muss deshalb das neue Leistungsversprechen „Operated by Germany“ hinzutreten. Unternehmen ergänzen ihre physischen Produkte um erweiterte Garantien. So könnten Züge inklusive des Leistungsversprechens pünktliche Transporte anbieten und medizinische Geräte die Einhaltung definierter Gesundheitswerte zusichern.

Nur die Verbindung von der analogen mit der digitalen Welt kann die Probleme der Welt lösen, in der Rohstoffknappheit, Klimawandel und nicht zuletzt planetare Gesundheit die wichtigsten Herausforderungen geworden sind.

Die Doppelhelix Digitalisierung und Nachhaltigkeit

Was ist wichtig für die Gesellschaft? Dabei muss sich, was die Zukunft angeht, der Blick insbesondere auf das Thema Nachhaltigkeit richten. Im Zuge der Coronapandemie hat die Relevanz des Themas Nachhaltigkeit weiter zugenommen. Im Rahmen einer Umfrage von Accenture gaben 62 % der globalen Entscheidungsträger an, dass das Thema stark dazu beitragen kann, den gesellschaftlichen Wert eines Unternehmens zu steigern. Bei einer vorherigen Umfrage im Mai 2020 hatten das nur 50 % der Befragten gesagt [26].

Die Ausrichtung auf den Umwelt- und Klimaschutz, den gesellschaftlichen Nutzen und eine gute Unternehmensführung ist zu einer strategischen Notwendigkeit geworden. Bis dato waren die Themen Wirtschaftlichkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Umweltschutz eher als Gegensätze diskutiert worden.

Dass Versäumnisse in Klimapolitik und Umweltschutz als Katalysator für die Benachteiligung der kommenden Generationen gesehen werden, zeigt der außerparlamentarische Protest der „Fridays for Future“-Bewegung [27]. Fridays-Initiatorin Greta Thunberg spricht immer wieder aus, was viele ihrer Generation denken: dass die Eltern- und Großelterngenerationen die Zukunft der Jugend mit ihrem Lebensstil zerstört haben. „Immer noch wird diese Notlage komplett ignoriert von den Politikern, den Medien und denen in einflussreichen Positionen“, erklärte sie zum Auftakt eines Protestmarschs im Februar 2020 in Bristol [28].

Klimawandel und Digitalisierung müssen zusammen gedacht werden. Die Präsidentin der EU-Kommission Ursula von der Leyen machte das auf dem Digitalgipfel deutlich: Digitale Technologien, erklärte sie, seien notwendig beim Kampf gegen den Klimawandel. „Grüner“ und digitaler Wandel gingen Hand in Hand. Die Wende zur Nachhaltigkeit könne also nur dann gelingen, wenn der digitale Fortschritt Fahrt aufnehme und die digitale Wirtschaft sich selbst ambitionierte Ziele setze.

Europa will bis 2030 die CO2-Emissionen um mindestens 55 % senken. Das aber erfordert, dass das nächste Jahrzehnt zu einem digitalen Jahrzehnt wird. Europa muss jetzt die Führung im digitalen Bereich übernehmen oder die Staatengemeinschaft wird sich von den USA und China komplett abhängig machen. Digitale Technologien können uns helfen, eine gesündere, nachhaltige Gesellschaft aufzubauen [29]. Ein Beispiel ist Green-IT [30]: Mit den entsprechenden Lösungen lassen sich CO2-Emissionen reduzieren sowie die Kreislaufwirtschaft und damit die Nachhaltigkeit von Produkten und Services fördern. Eine besondere Herausforderung besteht darin, den Wert solcher Werteversprechen mithilfe von Narrativen deutlicher als bisher herauszustellen.

Digitale Infrastrukturen erhöhen nicht nur die Effizienz, sondern auch die Transparenz in den Wertschöpfungsketten. Nachhaltigkeit und eine schonende und effiziente Ressourcennutzung können so auf allen Stufen abgebildet werden und für neue Wertschöpfungspotenziale sorgen. Die zunehmende Bedeutung von Nachhaltigkeit kann zum Treiber von Produkt- und Prozessinnovationen sowie Smart Services werden, z. B. im Bereich der Kreislaufwirtschaft oder der Sharing Economy. Mint Innovation, ein neuseeländisches städtisches Bergbauunternehmen, entwickelt kostengünstige, skalierbare Verfahren zur Rückgewinnung wertvoller Metalle aus Elektroschrottströmen. Schätzungen der Vereinten Nationen zufolge werden jährlich Edelmetalle im Wert von über 10 Mrd. US$ als Elektroschrott entsorgt. Die sauberen Prozesse von Mint Innovation nutzen Hydrometallurgie und Biotechnologie, um diesen Abfallstrom zu minimieren und eine vollständige Kreislaufwirtschaft bei Edelmetallen zu ermöglichen. Nachdem Mint Innovation kürzlich 20 Mio. US$ an Finanzmitteln erhalten hat, plant es, Bioraffinerien in Großbritannien und Australien in Betrieb zu nehmen. Diese Anlagen können dann jährlich bis zu 3500 t Elektroschrott verarbeiten [31].

Die Notwendigkeit von Technologien zur CO2-Einsparung wird von deutschen Unternehmen erkannt: So erklärten im Rahmen einer Umfrage des Digitalverbands BITKOM 83 % der befragten Unternehmen im Jahr 2020, dass es langfristig für sie von Vorteil sein werde, in Technologien mit positiver Umweltbilanz zu investieren [12]. Der Großteil der Unternehmen hat zudem einen positiven Effekt von digitalen Technologien auf die Umwelt festgestellt: 77 % der Teilnehmer gaben an, dass ihr CO2-Ausstoß durch Digitalisierungsmaßnahmen gesunken ist.

Des Weiteren kommt die Untersuchung zu dem Ergebnis, dass die Hälfte der CO2-Einsparungen, die in Deutschland zur Erreichung der Klimaziele bis 2030 erzielt werden müssten, durch Digitalisierung zustande kommen können. So reduziere sich der CO2-Ausstoß durch einen gezielten und beschleunigten Einsatz digitaler Technologien in 10 Jahren um bis zu 120 Megatonnen. Betrachtet wurden dabei 4 Anwendungsbereiche: industrielle Fertigung, Mobilität, Arbeit und der Gebäudesektor.

In der industriellen Fertigung hat der Einsatz digitaler Technologien laut Bitkom das größte Potenzial. Bis zu 61 Megatonnen CO2 lassen sich bis 2030 bei einer beschleunigten Digitalisierung einsparen. Maßgeblich ist zum einen die Automatisierung in der Produktion: Hier werden Anlagen und Maschinen, Werkstücke und Bauteile digital miteinander vernetzt. Prozesse laufen so selbstständig unter möglichst geringem Material- und Energieeinsatz ab. Zum anderen können digitale Zwillinge für deutliche CO2-Einsparungen sorgen. Diese virtuellen Abbilder von Produktions- und Betriebszyklen ermöglichen es, Verfahren digital statt real zu testen und damit Material und Energie einzusparen.

Bei einer beschleunigten Digitalisierung des Mobilitätssektors lassen sich bis zu 28 Megatonnen CO2 einsparen. Ein wichtiger Hebel hierbei ist die intelligente Verkehrssteuerung mithilfe von Sensoren und dem Navigationssystem GPS. Diese liefern beispielsweise Daten für Ampelschaltungen oder Umleitungen von Verkehrsströmen. Auch eine smarte Logistik, mit der Frachtrouten optimiert und Leerfahrten vermieden werden, kann die CO2-Emissionen erheblich verringern. Zudem sind digital gesteuerte Sharing- und Poolingangebote wichtige Bestandteile einer zukunftsgerichteten Mobilität. Zahlreiche digitale Anwendungen können zudem im Gebäudesektor bis 19 Megatonnen CO2 einsparen. Auch im Arbeitsleben sind beträchtliche Reduktionen möglich. Dazu gehört eine deutliche Ausweitung der Homeofficetätigkeit und die damit verbundene Verringerung von Büroflächen sowie der Ersatz von Geschäftsreisen durch Videokonferenzen. Das Einsparpotenzial in diesem Bereich beträgt bis zu 12 Megatonnen CO2.

Klima- und Umweltschutz sowie Elemente der Kreislaufökonomie können zunehmend zu einem wichtigen Exportartikel für die deutsche Wirtschaft werden. Dazu muss Nachhaltigkeit in den Unternehmen künftig zentraler Bestandteil der Unternehmensstrategie werden: Der gesellschaftliche Nutzen kann Mitarbeiter und Kooperationspartner von der Aufgabe begeistern und mehr Anknüpfungspunkte für eine Zusammenarbeit liefern.

Der Fokus der Unternehmen sollte daher auf Innovationen mit Schwerpunkt auf nachhaltigen Produkten liegen. Wichtig ist dabei: Die kommunizierten Unternehmensziele zur Nachhaltigkeit müssen auch tatsächlich umgesetzt werden. Die Kunden müssen die Unternehmensmarke mit den kommunizierten Maßnahmen in Verbindung bringen.

Zusammenfassung: Was zu tun ist

In dem Dreiklang physisch/digitaler Konvergenz, Nutzen und Narrativ liegt das Potenzial, digitale Transformation nicht nur für die Verbesserung von Lebensqualität zu nutzen, sondern dabei auch die Wettbewerbsfähigkeit Europas zwischen den Giganten USA und China zu stärken.

Physische Produkte und Anlagen werden im Rahmen der Digitalisierung über Embedded Software [32] und Betriebsplattformen grundlegend verändert und erweitert. In der Folge verschiebt sich der Wettbewerb von „Made in“ zu „Made and operated by“: Der digitale Betrieb der physischen Welt wird zu einem definierten Leistungsversprechen (wie z. B. Nachhaltigkeit, Pünktlichkeit, Gesundheit usw.). Die große Chance ist, Maschinen, Anlagen und Supply Chains digital und nachhaltig zu betreiben. Die Coronakrise hat nicht nur die Bruchstellen in der sozialen, physischen und digitalen Infrastruktur aufgezeigt, sondern auch die enormen Chancen, die in einer umfassenden digitalen Transformation liegen. Die flankierende und notwendige Diskussion zu den auf menschliches Wohlbefinden ausgerichteten ethischen Rahmenbedingungen „by design“ hat bereits begonnen [6,7,8,9,10]. Die Umsetzbarkeit steht und fällt mit der Entwicklung und der Akzeptanz von dafür relevanten Standards [33].

Wir brauchen einen integrierten Plan und die dazugehörige Governance in Europa, in den Nationalstaaten und in den einzelnen Unternehmen, um die physische Welt nunmehr digital zu betreiben. Aus dem Gütesiegel „Made in …“ muss das Prädikat „Made in und operated by“ werden.