Der politische Missbrauch der Psychiatrie in der Sowjetunion (SU) spaltete ab den 1970er-Jahren Fachverbände in Ost und West (Erices 2020). Nach dem Fall der Mauer berichteten Medien über ähnliche skandalöse Zustände in der DDR. Untersuchungskommissionen und Forschungen zeigten, dass es einen systematischen Missbrauch der Psychiatrie in der DDR für politische Zwecke nicht gegeben hatte. Allerdings wurden drastische Einzelfälle nachgewiesen. Bis heute gibt es Mutmaßungen über eine Psychiatrisierung von weitaus größerem Ausmaß. Forschungen, die sich mit Zwangseinweisungen, mit amtsärztlicher Registrierung von psychiatrischen Patienten sowie mit dem Umgang mit ordnungspolitischen staatlichen Vorgaben auf Verwaltungsebene beschäftigen, fehlen. Die Quellenlage für eine solche Aufarbeitung ist unklar.

Interesse des Geheimdienstes

Neue Aktenfunde zeigen, dass sich in den 1970er-Jahren zeitgleich mit den Diskussionen in der Fachwelt auch der Bundesnachrichtendienst (BND) für die Psychiatrie in den Ländern des sog. Ostblocks interessierte. Ziel des Geheimdienstes war, sich einen Überblick über das Ausmaß der Strafpsychiatrie in der Sowjetunion zu schaffen sowie Kliniken, Leiter und deren Einbindung in Geheimvorgänge aufzuschlüsseln (Archiv des Bundesnachrichtendienstes o.J.). In diesem Zusammenhang prüfte der BND auch Berichte zur Psychiatrie in der DDR. Als Quellen dienten Ärzte, klinische Mitarbeiter und Patienten, die die DDR verlassen hatten. Im Jahr 1977 fasste ein Geheimdienstmitarbeiter die Erkenntnisse zusammen: „Das Meldungsbild zeigt schon seit einiger Zeit eindeutig auf, dass ähnlich wie in der SU auch in der DDR die Psychiatrie als Mittel gegen politisch Unbequeme eingesetzt wird“ (Archiv des Bundesnachrichtendienstes o.J.).

Eine Laborantin aus dem Bezirksklinikum für Psychiatrie und Neurologie Uchtspringe im Bezirk Magdeburg hatte beispielsweise ausgesagt, dass in einer der psychiatrischen Stationen „neben Gewaltverbrechern ständig vorwiegend jugendliche DDR-Bewohner untergebracht“ seien, die bei Republikfluchtversuchen ertappt worden waren. „Ihre Untersuchung auf Gehirnschäden“ sei gerichtlich angeordnet gewesen. Nach einem 8‑tägigen Aufenthalt in der Klinik kämen sie zurück in die Untersuchungshaft. Die Anzahl der betroffenen Jugendlichen schätzte die Laborantin auf 125 bis 150 im Jahr. Ein anderer Übersiedler berichtete, dass er nach seiner Ausreisegenehmigung Ende 1975 verhaftet und auf Anweisung eines Staatsanwalts in eine Nervenklinik eingewiesen worden sei. Er sei dort mehrere Wochen „unter geistesgestörten Patienten“ ohne Behandlung verblieben.

In der Regel ging es in den Berichten der Quellen um ausreisewillige Menschen, die über Wochen in einer psychiatrischen Klinik festgehalten wurden, obwohl sie nach eigenen Angaben gesund waren. Der BND-Mitarbeiter fasste das „Gesamtmeldungsbild“ zusammen: Es bestehe „kein Zweifel“ mehr, dass in der DDR psychisch gesunde Personen mit abweichendem politischem Verhalten in Anstalten eingewiesen werden. Diese Einweisungen würden „immer“ seitens der zuständigen Dienststellen der SED veranlasst werden, wobei untere Instanzen bestrebt seien, sich ihr Vorgehen von höheren absichern zu lassen.

Dass in der Debatte um den Psychiatriemissbrauch auf die BND-Quellen bislang kein Bezug genommen wurde, ist nicht erstaunlich. Erst seit wenigen Jahren werden Akten der Öffentlichkeit auf Anfrage in beschränktem Maß zugänglich gemacht. Der thematische Erkenntnisgewinn ist, verglichen mit dem Wissen aus den Stasihinterlassenschaften, oft bescheiden. Unklar ist, inwieweit die BND-Erkenntnisse auf politischer Ebene in der deutsch-deutschen Auseinandersetzung vor 1990 eine Rolle spielten. Bundesdeutsche Zeitungen berichteten in den 1970er-Jahren regelmäßig zu einem mutmaßlichen Missbrauch der Psychiatrie in sozialistischen Staaten. Fälle in der DDR kamen dabei nur gelegentlich vor. Die Zeitung Die Welt zitierte am 29.06.1976 auf ihrer Titelseite eine Stellungnahme der Vereinigung der Opfer des Stalinismus (Anonym 1976). Diese hatte mehrere Fälle benannt, die „nach Erkenntnissen von Bundesbehörden als ‚absolut glaubwürdig‘ gelten“. Dabei ging es um Menschen, die aus politischen Gründen in DDR-Kliniken für Psychiatrie zwangseingewiesen wurden. Ein Mann beispielsweise sei nach Protesten gegen den Mauerbau jahrelang zwangsinterniert worden. Ein anderer Mann sei bei einem Fluchtversuch trotz Minenverletzung beschossen und danach psychiatrisiert worden. Ob die Vorwürfe zutrafen, ist unklar. Sie schreckten zumindest DDR-Sicherheitsorgane auf. Meldungen in der Bundesrepublik über „unmenschliche Methoden“ in der Bezirksnervenklinik Neuruppin sorgten 1977 für jahrelange Ermittlungen der DDR-Staatssicherheit in der Klinik (Bundesbeauftragter für die Stasi-Unterlagen [BStU], Ministerium für Staatssicherheit [MfS], Bezirksverwaltung für Staatssicherheit [BVfS] Potsdam o.J.). Im Jahr 1979 brachte das Hamburger Politmagazin avanti einen seitenlangen Bericht über einen Mann, der mit einer Plakataktion seine Ausreise aus der DDR befördern wollte (Schacht 1979). In der Untersuchungshaft, so der Bericht, wurde er mehrmals von einem Psychiater befragt. Die Zeitung behauptete, dass in der DDR eine der SU ähnliche „perfide Verfolgungspraxis“ existiere und die Psychiatrisierung Andersdenkender zunehme. Nachweise lieferte sie nicht.

Insgesamt jedoch gab es vor dem Mauerfall nur wenige Berichte über einen politischen Missbrauch in der Psychiatrie in der DDR. Dabei wurden die Zustände in der DDR von etlichen Vereinen in der Bundesrepublik permanent verfolgt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International, die in ihren Jahresberichten den Missbrauch in der Sowjetunion anprangerte, erwähnte keine entsprechenden Vorfälle in der DDR. Ebenso fehlten offenbar Hinweise bei der Zentralen Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter.

Öffentliche Debatte

Die öffentliche Debatte über einen umfassenden Missbrauch in der DDR kam letztlich erst 1990 in Gang. Das Magazin Stern berichtete in mehreren Folgen von angeblichen Vorkommnissen in der sächsischen Klinik Waldheim (König 1990). So habe das MfS unbequeme DDR-Bürger systematisch einsperren und foltern lassen. Die Bild-Zeitung folgte mit Berichten zur Berliner Charité. Der Ministerrat der DDR ließ daraufhin die Zustände vor Ort prüfen. Die Sachverständigen widerlegten die Vorwürfe des Stern zum großen Teil. Lediglich ein psychisch gesunder Mann war, ohne eine Straftat begangen zu haben, über Wochen festgehalten worden. Ein Sonderausschuss der Volkskammer untersuchte bis September 1990 Vorgänge in weiteren Kliniken. Sachverständige prüften fragwürdige hirnchirurgische und radiologische Eingriffe des einstigen Waldheimer Chefarztes. Als Grundlage dienten Patientenakten. Die Gutachter fanden Belege, dass das MfS die Einrichtung in Waldheim in Einzelfällen „eindeutig“ politisch missbrauchte. Die umfassende und systematische Nutzung Waldheims zur Disziplinierung politisch Missliebiger habe jedoch nicht stattgefunden. Als besonders erschreckend dagegen beschrieb die Kommission die allgemeine „staatlich zu verantwortende Vernachlässigung der Psychiatrie in der DDR über Jahrzehnte“.

In der Folge tauchten in der Öffentlichkeit weitere Mutmaßungen über einen systematischen Missbrauch auf. Darauf richteten die neuen Länder – außer Mecklenburg-Vorpommern – Kommissionen ein, die den Missbrauch in ihrer Region untersuchten. Den Kommissionen gehörten Fachvertreter, Juristen und Politiker aus Ost und West an. Ziele und Art der Durchführung unterschieden sich deutlich voneinander. Während in Sachsen Zeitzeugen befragt sowie Hunderte von Stasi‑, Krankenakten und Gutachten untersucht wurden, erschöpfte sich die Arbeit in Thüringen auf Betroffeneninterviews; auch einen schriftlichen Abschlussbericht gab es nicht.

Alle Kommissionen kamen zum Schluss, dass es einen systematischen politischen Missbrauch der Psychiatrie in der DDR – zumindest im geprüften Zeitraum der Honecker-Ära – nicht gegeben hatte. Sie berichteten jedoch von drastischen Einzelfällen sowie von ungesetzlichem staatlichen Vorgehen. Ärzte hatten ihre Schweigepflicht gebrochen. Außerdem berichteten die Experten von Fällen körperlicher Misshandlung. Fälle mit Scheindiagnosen wurden im Unterschied zur einstigen sowjetischen Praxis nicht gefunden. Die Ergebnisse der Kommissionen bestätigte Süß (1998) wenige Jahre später mit ihrer umfassenden Auswertung der Stasiakten zur Psychiatrie. Seitens der Forschung herrscht seitdem weitgehend Konsens, dass es einen systematischen politisch motivierten Missbrauch der Psychiatrie in der DDR nicht gab. Süß beschrieb gleichsam Einzelfälle des Missbrauchs und ging detailliert auf kritische Praktiken in der DDR ein: Spitzeltätigkeit von Therapeuten, ordnungspolitische Internierungen, Schweigepflichtverletzungen, missbräuchliche Anwendung von Psychopharmaka, psychiatrische Gutachten zu politischen Häftlingen sowie die sog. Operative Psychologie.

Nach Veröffentlichung der Forschungsergebnisse schrieb die linke Tageszeitung Neues Deutschland, dass vom Vorwurf des politischen Missbrauchs „nach jahrelangen Untersuchungen praktisch nichts übriggeblieben“ sei (Braumann 1997). Ähnlich äußerte sich beispielsweise Hagemann (1997), einst Ärztlicher Leiter am Berliner Städtischen Krankenhaus Herzberge. Er bezeichnete den Vorwurf, dass in der Psychiatrie der DDR „geistig gesunde Bürger aus politischen Gründen psychiatrisch interniert“ wurden, als Verleumdung. Bezugnehmend auf die einstigen Berichte des Stern beschrieb er eine Verschwörung des Westens von sensationssuchenden Journalisten. „Zwangseinweisungen geistig Gesunder gab es nicht – dabei bleibt es“, stellte er klar.

Es schien, als wäre nun der Zeitpunkt gekommen, einer nach dem Mauerfall einsetzenden öffentlichen Delegitimierung der DDR-Psychiatrie einen deutlichen Standpunkt entgegenzusetzen. Für viele DDR-Therapeuten mag die öffentliche Darstellung der Forschungsergebnisse entlastend gewesen sein. Tatsächlich boten die „Psycho“-Fächer in der DDR auch eine Nische, in die „Systemgeschädigte aller Art“ flüchteten (Geyer 2011).

Verein hält weiter an Missbrauchsthese fest

Im Jahr 2006 schrieb der Arzt Weinberger (2006) in der rechtskonservativen Zeitung Junge Freiheit, die Praxis des Psychiatriemissbrauchs an politisch Unbequemen in der DDR sei „bis heute nicht aufgearbeitet“. Der Autor war bereits in den 1970er-Jahren führender Vertreter eines Vereins in der Bundesrepublik, der gegen die Strafpsychiatrie in der Sowjetunion auftrat. Nach dem Mauerfall sammelte sein Verein weiter Nachweise. Der systematische und politisch motivierte Missbrauch, so der Verein, habe stattgefunden (1997). Weinberger vermutete, dass die Bundesrepublik die „Psycho-Form“ der Repression herunterspiele, um die mutmaßlichen Opfer nicht entschädigen zu müssen.

Die Polemik entzündet sich immer wieder an der Frage, ob der Missbrauch systematisch und damit vom DDR-Staat grundsätzlich angeordnet oder gewollt wurde. Der Forschungskonsens wurde wiederholt kritisiert, es gebe einfach zu viele Missbrauchsbeispiele, als dass man die Psychiatrie in der DDR von dem Vorwurf befreien könne (Schwenger 1998). Die Autorin Süß (1999a) schrieb im Nachgang, dass sie die Aufklärung anhand konkreter Fallbeschreibungen für wichtiger halte als den mit Ideologie und Missverständnissen belasteten Streit um den Begriff „politischer Psychiatriemissbrauch“. Gleichzeitig zeigte sie, dass im Einzelfall ein politischer Machtmissbrauch durch „regionale Provinzpotentaten“ zustande kam, und dass hier übergeordnete staatliche Stellen innerhalb des Gesundheitswesens eher für Abhilfe sorgten (Süß 1999b). Einem anderen Bericht zufolge soll Karl Seidel, der mächtige Leiter der Abteilung Gesundheitspolitik der führenden Partei, der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), stets Wert auf eine „absolute Korrektheit“ gelegt haben, wenn politische Faktoren in einem Patientenfall eine Rolle spielten (van Voren 2010). Das passt in den Kontext, dass die DDR zumindest ab den 1970er-Jahren auf eine positive Außendarstellung und internationale Anerkennung Wert legte. Überhaupt finden sich jenseits der viel untersuchten Stasiakten in Aktenbeständen übergeordneter Einrichtungen, etwa des Gesundheitsministeriums oder der Abteilung Gesundheitspolitik der SED, schwerlich Nachweise für einen gezielten Missbrauch im Sinne politischer Repression.

Rechtlicher Rahmen

Zwangseinweisungen waren (erst) seit dem 11.06.1968 in der DDR im sog. Einweisungsgesetz geregelt. Das Gesetz schloss die Unterbringung von psychisch Gesunden in einer psychiatrischen Klinik aus (Mandel und Lange 1985). Nach Art. 30 der DDR-Verfassung galt, dass die „Persönlichkeit und Freiheit jedes Bürgers unantastbar sind“. Eingeschränkt werden durften die Rechte nur im Zusammenhang mit strafbaren Handlungen oder Heilbehandlungen. Das Gesetz diente auch zur Unterbringung in einer psychiatrischen Anstalt gegen den Willen der Betroffenen. Dafür musste „mindestens“ ein im psychiatrischen Sinn auffälliges Verhalten vorliegen, dass den begründeten Verdacht auf psychische Erkrankung oder schwere Fehlentwicklung der Persönlichkeit vom Krankheitswert zuließ. Ausdrücklich sollte die „medizinische Relevanz“ für Zwangseinweisungen im Vordergrund stehen. Dem Gesetz nach war der Kreisarzt, also der Amtsarzt, zuständig, für die Einweisung eines Menschen für bis zu sechs Wochen, wenn dies der Schutz des Kranken erforderte oder dieser eine „ernste Gefahr für andere Personen oder für das Zusammenleben der Bürger“ darstellte. Darüber hinaus musste bei der befristeten Einweisung über sechs Wochen gegen den Willen eines Kranken die Einweisungsdiagnose zwingend fachärztlich überprüft und dokumentiert werden. Gegen die Einweisung konnten Kranke, gesetzliche Vertreter oder Angehörige einen Antrag zur Aufhebung stellen. Über diesen Antrag hatte der ärztliche Anstaltsleiter im Einvernehmen mit dem Kreisarzt zu entscheiden. Gegen die Ablehnung des Antrags konnte der Patient wiederum Beschwerde einlegen. Für die Zeit nach Ablauf der Frist von sechs Wochen hatte das zuständige Kreisgericht auf Grundlage „ärztlicher Gutachten, unter Einbeziehung eines Psychiaters“ zu entscheiden.

Tatsächlich taten sich die Verantwortlichen mit der Umsetzung des Gesetzes schwer. Gemäß einer Studie an einem DDR-Bezirkskrankenhaus war bis in die 1980er-Jahre ein großer Anteil der Zwangseinweisungen nicht rechtskonform (Späte und Rogoll 1984). Das hatte weniger politische Hintergründe, was schon daran zu vermuten ist, dass die Studie in einem DDR-Fachblatt prominent veröffentlicht wurde. Demnach waren Aufklärung und Rechtsmittelbelehrung der Betroffenen nicht ausreichend. Seitens der Psychiater wurde v. a. eine „mangelhafte Schulung“ der verantwortlichen Kreisärzte gesehen. In diesem Kontext wiesen DDR-Autoren auch auf den möglichen Missbrauch einer Zwangseinweisung hin. „Behördenlästigkeit“ sollte ausdrücklich kein Grund für eine Einweisung sein (Späte und Rogoll 1984).

Allgemein gab es zu ethischen Prinzipien beim Umgang mit psychisch Kranken bis in die 1970er-Jahre in der DDR „nur wenige Positionsbestimmungen“. Grundsätzlich befürwortet wurden neben den Erkenntnissen von Rodewisch (1963; Anonym 1964) und Brandenburg (Schirmer 1976) auch die Erklärung von Hawaii des Weltverbandes für Psychiatrie von 1977 (World Psychiatric Association 1978), die die ethische Leitlinien beschrieb, auch wenn diese – so DDR-Lesart – „völlig unberechtigt“ zu politischen Angriffen gegen die SU eingesetzt worden war (Späte und Thom 1984). Der Psychiater Späte und der Medizinhistoriker Thom beschrieben 1984 „moralische Pflichten des Psychiaters“. So seien Handlungen „moralisch verboten“, die den Patienten sozial diskriminieren, ihn psychisch oder körperlich schädigen und die dessen mögliche (vorübergehende oder dauernde) Unfreiheit zur Entscheidung „gegen seine Interessen ausnutzen“ sowie die Würde des Menschen missachten. Auch „kleinste Abweichungen“ würden das Vertrauen in die Psychiatrie untergraben. Die Autoren empfahlen den Fachkollegen, als Gutachter zur Betreuung „kriminell gefährdeter Bürger“ tätig zu werden, schränkten jedoch ein, dass diese nicht „in ihrer sozialen Spezifik“ zu psychiatrisieren seien. Moralisch verboten seien auch Gutachten nach dem Wunsch des Auftraggebers und ebenso, den „Begutachteten im Unklaren über seine Situation zu belassen“, und überhaupt als Handlanger für andere Institutionen zu wirken.

Ordnungspolitik

Im Widerspruch zu den Gesetzesvorgaben stand der ordnungspolitisch motivierte Freiheitsentzug bei sog. gesellschaftlichen Höhepunkten. So wurde in der DDR zumindest ab den 1970er-Jahren vorgegeben, bei Wahlen, Staatsbesuchen oder Festen potenziell störende psychisch Kranke in psychiatrische Kliniken einzuweisen oder dort Entlassungssperren zu verhängen. Entsprechende Anordnungen wurden durch die Kreisärzte den Klinikleitern weitergegeben. Über den Umfang derartiger Zwangseinweisungen findet sich in der Literatur wenig. Konkret benannt wurden solche „Sicherungsmaßnahmen“ im Kontext der Weltfestspiele 1973 in Ostberlin, beim geplanten Staatsbesuch von Bundeskanzler Helmut Schmidt 1981, bei diversen Jugendfesten, der Leipziger Messe oder dem Turn- und Sportfest. Berichte in Stasiakten, aber auch von Zeitzeugen zeigen, dass die Vorgaben oft recht lax umgesetzt wurden, und dass der Staat teilweise kaum Interesse hatte durchzugreifen. Die Entscheidung zur Umsetzung lag bei den klinischen Leitern. Überliefert ist ein Schriftwechsel aus der Leipziger Universitätsklinik: Nachdem die Klinikleitung auf den mutmaßlichen Rechtsbruch und überhaupt die organisatorischen Probleme hingewiesen hatte, die eine solche Anordnung für die Klinikabläufe bedeutete, kapitulierten die staatlichen Verantwortlichen (Bach und Michalak 1998).

Dass psychiatrische Einrichtungen genutzt werden, aus einer Sorge um die öffentliche Ordnung, gab es wohl, solange das Fachgebiet existiert. Ein Missbrauch psychiatrischer Möglichkeiten unter einem medizinisch-therapeutischen Deckmantel zur Verschleierung von Ordnungsansprüchen ist ebenso für den Westen jener Zeit beschrieben (Wulff 1998). Vor allem sollten damit sozial störende Menschen von der „normalen Gesellschaft“ abgegrenzt werden, um sie zu disziplinieren.

Um die ordnungspolitischen Maßnahmen bei Großveranstaltungen durchzusetzen, bedurfte es irgendwelcher Namenslisten. Sporadisch lassen sich derartige Listen nachweisen – etwa eine Übersicht von 64 psychisch Kranken, die zu den Weltfestspielen 1973 in Ostberlin einzuweisen waren (Süß 1999). Diese Liste stammte aus dem Bereich der Staatsanwaltschaften und nicht des MfS. Zu dieser Zeit forderte das MfS allerdings eine grundlegende Meldepflicht für psychisch Kranke (BStU, MfS, HA XX [HA: Hauptabteilung], Nr. 479, Teil 2 o.J.). Jahre später speicherten Volkspolizei und MfS tatsächlich in einer eigenen Registratur psychisch Kranke, zumindest jene, die polizeilich aufgefallen waren. Untersuchungen jedoch zum Ausmaß einer „Listenführung“ bei den Verwaltungen oder den Staatsanwaltschaften, die letztlich für Einweisungen zuständig waren, fehlen. Eher zufällig lassen sich derartige Patientenlisten heute in Archivbeständen nachweisen (Erices 2014).

Andere Verfehlungen

Ein schwerwiegendes berufsethisches Problem stellte der Bruch der ärztlichen Schweigepflicht dar, der in der DDR nach § 136 des Strafgesetzbuches verboten war (Mandel und Lange 1985). Viele Therapeuten arbeiteten in der DDR als inoffizielle Mitarbeiter (IM) des MfS. Darüber hinaus gab es sog. offizielle Kontakte zwischen ärztlichen Leitern und dem MfS. Stasimitarbeiter arbeiteten teilweise direkt in Kliniken und hatten Zugang zu Krankenunterlagen. Das betraf allerdings das gesamte DDR-Gesundheitswesen.

Ein weiterer kritischer Punkt war die psychiatrische Begutachtung von politischen Häftlingen. In der DDR hatte das Strafrecht herrschaftssichernde Funktion. Zentrale Aspekte der Rechtsausübung waren unklar geregelt, was sich auf die politisch motivierte Strafverfolgung auswirkte. So gab es zwar das Einweisungsgesetz, jedoch waren etwa mögliche Befugnisse der Sicherheitsorgane in diesem Zusammenhang lediglich in einem Paragrafen des Volkspolizeigesetzes vage geregelt (Weinke 2009). Besonders relevant wurde dieser Aspekt im Zusammenhang mit der Vielzahl von Antragstellern auf Ausreise oder bei fehlgeschlagenen Fluchtversuchen, wenn Betroffene zur psychiatrischen Begutachtung gezwungen wurden. Die Untersuchungskommissionen hatten z. T. Hintergründe für Gutachten untersucht und seitens der Fachexperten kein Fehlverhalten festgestellt. Im Kontrast dazu stehen die eingangs erwähnten Aktenfunde des BND. Für eine endgültige Wertung fehlen systematische Untersuchungen. Schätzungen verschiedener Autoren gehen zumindest von mehreren Hundert politischen Häftlingen aus, die gerichtspsychiatrisch untersucht und anschließend in Kliniken eingewiesen wurden (Borbe 2010).

Weitere Vorwürfe fallen eher in den Bereich der DDR-Strafjustiz als in das Fachgebiet der Psychiatrie, wo besonders psychische Langzeitfolgen von Betroffenen deutliche Ausmaße hatten (Weißflog et al. 2010). Zu erwähnen ist die Bekämpfung politischer Gegner mit Mitteln der Operativen Psychologie, also mithilfe der Instrumentalisierung psychologischen Wissens. Das schloss die missbräuchliche Gabe von psychotropen Substanzen an Häftlinge oder psychologische Druckmittel, etwa eine unklare psychologische Testung, ein (Denis und Kuhn 1996). Am Berliner Haftkrankenhaus Hohenschönhausen verfügte das MfS über einen eigenen Hoheitsbereich, in dem es seine Ziele unerkannt verfolgen konnte. Ärztlich tätig waren hier auch Psychiater.

Resümee

Missbrauchsopfer einer Strafpsychiatrie hatten die Möglichkeit, Rehabilitierungsanträge zu stellen. Der Anteil entsprechender Anträge war sehr gering. Relevante Zahlen wurden erst im Jahr 2008 publik (Thüringer Landtag 2010). So waren in Thüringen nach Auskunft der Landesbehörden bis dato 47 Anträge wegen Aufenthalts in psychiatrischen Einrichtungen nach politischer Verfolgung gestellt worden. Davon waren 21 Fälle gerichtlich bewilligt worden. In der Zeit danach bis heute spielt das Thema innerhalb der Opferberatung nur in wenigen Einzelfällen eine Rolle.

Problematisch für die Aufarbeitung bleiben bis heute polemische Äußerungen von Psychiatriegegnern, politisch motivierten Aufarbeitungsgruppen, Medien und auch Forschern (Budde 2015). Einzelmissstände werden zum Gesamtphänomen überhöht, überholte psychiatrische Therapien als Folter gebrandmarkt, wissenschaftlicher Diskurs wird mit den Klischees des Kalten Krieges als Rechtfertigung des untergegangenen Systems vom Tisch gewischt.

Fazit

  • Nachweislich gab es einen Missbrauch der Psychiatrie in der DDR, und es gab dafür durchaus staatliche Interventionsmöglichkeiten, jedoch nicht zur politischen Repression. Zur Klärung von Detailfragen besteht noch Forschungsbedarf.

  • Anzumerken ist, dass „die Psychiatrie“ auch in der DDR keine monolithische Struktur hatte und insofern zentralistische und parteibürokratisch diktierte Machtstrukturen von einzelnen Lebenswelten, also Nischen in der psychiatrischen Versorgung, oder beispielsweise Begutachtung in der DDR abzugrenzen sind. Dies ist insofern bedeutsam, weil es die persönliche Verantwortung der Handelnden in den Fokus einer Betrachtung stellt. So ist besonders die Rolle der regionalen medizinischen Verwaltungsebene, etwa die der Kreisärzte, wenig beschrieben.

  • Außerdem fehlen übergreifende Untersuchungen zur Praxis von Zwangseinweisungen. Diese liegen bislang erst für einige Einrichtungen vor. Auch zur Begutachtung von politischen Häftlingen durch Psychiater fehlen Studien. Problematisch bei der Aufarbeitung dürfte nicht nur der enorme Aufwand für derartige Analysen sein. Nötig wären systematische Bestandsprüfungen der Regionalarchive.

  • Unsicher ist, inwieweit vergleichbares Archivmaterial vorhanden ist. Insbesondere zu den Gesundheitsabteilungen der Kreis- und Bezirksräte sind Unterlagen teilweise kaum überliefert.