Zusammenfassung
Albrecht von Haller – Professor für Anatomie, Botanik und Chirurgie in Göttingen, später Politiker und Dichter in Bern und einer der führenden Gelehrten der Aufklärung – war auch als Rezensent bemerkenswert. Die Zeitgenossen waren von der schieren Zahl seiner Buchbesprechungen überaus beeindruckt; ähnlich ergeht es Historikerinnen und Historikern heute. Die Erklärungen, die für seine Produktivität als Rezensent ins Feld geführt wurden und werden, verweisen typischerweise auf Hallers beeindruckend breite Lektüre und sein außergewöhnlich gutes Gedächtnis. Wir argumentieren, dass diese Erklärungen nicht hinreichen: Nur wenn wir auch Hallers Lese- und Exzerpierpraktiken berücksichtigen, gelangen wir zu einer zufriedenstellenden Erklärung seiner Produktivität als Rezensent. Denn es zeigt sich, dass seine erhaltenen Exzerpte und seine veröffentlichten Rezensionen eng miteinander verbunden waren. Wie wir weiter argumentieren, waren die kognitiven Praktiken und der Einsatz von „paper technology“, die Hallers wissenschaftliche Lektüre charakterisierten, zeitgenössisch durchaus üblich. Während die Rhetorik vieler Aufklärer suggeriert, dass sie sich zugunsten des autoptischen Wissens vom Bücherwissen abwandten, sprechen ihre Buchbesprechungen und die erhaltenen Exzerpte oftmals eine andere Sprache. Das aufklärerische Projekt der „Kritik“ baute auf denselben gelehrten Praktiken des Lesens und Exzerpierens auf, die damals oft verpönt waren, und es profitierte von ihnen.
Abstract
Albrecht von Haller – professor for anatomy, botany, and surgery in Göttingen, later politician and poet in Bern, and a leading scholar of the Enlightenment – was a reviewer of sorts. The contemporaries found the sheer number of book reviews he managed to publish staggering; so do the historians. Explanations of his productivity typically gesture towards Haller’s impressively wide reading and extraordinary memory. We argue that this line of argument is unconvincing: only if we take his reading and excerpting practices into consideration, can we arrive at a satisfactory explanation of Haller’s productivity as a reviewer. For it turns out that his extant reading notes and his published reviews were intimately connected. As we argue further, the cognitive practices and use of paper technology that characterized Haller’s scholarly reading were not in themselves unique. While the rhetoric of many Enlightenment figures suggest that they turned away from the knowledge of the book in favor of autoptical knowledge, their book reviews and extant reading notes often speak a different language. The Enlightenment project of „critique“ built on, and profited from, the very scholarly practices of reading and excerpting that were often frowned upon at the time.
© 2021 Walter de Gruyter, Berlin/Boston