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Publicly Available Published by De Gruyter December 1, 2020

Obituary

  • Gautier Laurent

From the journal Yearbook of Phraseology

Nachruf auf Gertrud Gréciano (1940–2020)

Die Europhras-Gemeinschaft trauert um Prof. DDDr. Gertrud Gréciano, die im Juni 2020 in Saverne (Elsass) verstorben ist. Mit ihr verliert unsere Gesellschaft nicht nur ein Gründungsmitglied und ihre frühere Schatzmeisterin, sondern auch eine unermüdlich engagierte Kollegin und Freundin, die die Phraseologie – aber auch die gesamte Breite der germanistischen Linguistik – in Forschung und Lehre in Frankreich und international (Europa, Afrika, USA, Russland, Israel) stets mit Energie und (aufklärerischer) Vision verteidigt hat. Die von ihr 1988 in Klingenthal organisierte Tagung „Europhras 88“ und der daraus hervorgegangene Sammelband waren nicht nur die Wiege von Europhras, sondern sind bis heute ein anerkannter Meilenstein der europäischen Phraseologieforschung.

1940 in Österreich geboren absolvierte sie ihr Studium an der Universität Innsbruck, wo sie 1963 mit einer Doktorarbeit in romanistischer Literaturwissenschaft mit dem Titel Mistral, die Camargue und die Literatur der Camargue mit Auszeichnung promovierte. Als Assistentin an der Universität Salzburg bei Prof. Dr. Felix Karlinger und später als Dozentin für Deutsch an der Universität Nancy (Lothringen) spezialisierte sich Gertrud Gréciano in germanistischer Linguistik, wobei sie die kontrastive Perspektive ihrer romanistisch geprägten akademischen Anfänge nie aus den Augen verlor. Ihr Interesse galt zunächst der damals in Frankreich lebhaft geführten Auseinandersetzung mit Tesnières Erbe und führte zu einer zweiten Doktorarbeit an der Sorbonne (ebenfalls mit Auszeichnung verteidigt) zum Anwendungspotenzial der Dependenzgrammatik für die Beschreibung des Deutschen (Les applications de la grammaire de dépendance au domaine allemand, Paris, 1972). Hier profilierte sich Gertrud Gréciano bereits zur außergewöhnlichen Brückenschlägerin zwischen den jeweiligen philologischen und linguistischen Traditionen mit dem steten Willen, keine methodologischen oder theoretischen Optionen unkritisch und unreflektiert auszuschließen. Auch in ihrer stärker phraseologisch orientierten Schaffensperiode hat sie dieses Interesse für die Rezeption von Valenz und Dependenz nie verlassen. So organisierte sie 1993 in Straßburg eines der drei Jubiläumskolloquien zum 100. Geburtstag von Tesnière. Auf diese erste wesentliche akademische Etappe im französischen Hochschulwesen folgte kaum zehn Jahre später ihr opus magnum, die von Prof. Dr. Paul Valentin betreute Habilitationsschrift (Doctorat d’Etat) mit dem Titel Signification et dénotation en allemand. La sémantique des expressions idiomatiques (Paris, 1981; 1983 bei Klincksieck erschienen), mit der sie die Phraseologieforschung lange und tief geprägt hat. In dieser grundlegenden Arbeit geht Gertrud Gréciano akribisch der Frage nach der semantischen Struktur phraseologischer, insbesondere idiomatischer Ausdrücke nach und fokussiert dabei auf beeindruckende Weise auf das Zusammenspiel zwischen Phrasemsystem und -gebrauch, was inzwischen von allen PhraseologieforscherInnen anerkannt und praktiziert wird. Zunächst Professorin an der Universität Metz (Lothringen), folgte sie 1984 dem Ruf an die Universität Straßburg, wo sie bis zu ihrer Emeritierung im Jahre 2000 tätig war.

Im Lauf ihrer Karriere engagierte sich Gertrud Gréciano hartnäckig für eine wissenschaftlich fundierte linguistische Ausbildung französischer GermanistInnen, sowohl für Lehramtstudierende als auch zukünftige UniversitätsprofessorInnen. Die von ihr jedes Jahr gehaltenen Vorbereitungen auf die grammatischen bzw. linguistischen Teilprüfungen des Capes und der Agrégation lagen ihr sehr am Herzen und jeder Erfolg eines/einer ihrer StudentInnen in diesem Rahmen bereitete ihr große Freude. So blieb sie insgesamt sechzehn Jahre Mitglied der Jurys beider Prüfungen, wobei es ihr 1999 sogar gelang, die Phraseologie auf das Prüfungsprogramm des Wahlfaches Linguistik der Agrégation zu setzen.

Gertrud Grécianos Engagement galt auch der Forschung und der Ausbildung von NachwuchwissenschaftlerInnen. Sie betreute eine Unmenge an Masterarbeiten und fünfzehn Dissertationen zu Themen, die ihren Sinn für Innovation bestens illustrieren. Sie erkannte wohl als Erste in Frankreich die Bedeutung der Fachsprachenforschung als einer der potentiellen Rettungswege der französischen Germanistik und setzte von da an alles daran, um ihre Entwicklung zu fördern. So erkannte sie sehr früh die Zusammenhänge zwischen Konzepten und Definitionen bzw. Terminologie und Fachphraseologie sowie das Potenzial der sich damals noch im Frühstadium befindlichen Korpuslinguistik. Ihre Arbeiten zu Kollokationen in Rechts- und Medizintexten, die sie auf sehr geschickte Weise mit ihrer intimen Kenntnis der ersten fillmoreschen Frame-Semantik kombinierte, waren bahnbrechende Studien, deren Kraft in Europa insbesondere durch ihre langjährige Tätigkeit als wissenschaftliche Expertin der Europäischen Kommission (Brüssel) und des Europarats (Straßburg) deutlich wurde. In diesem Bereich wie in vielen anderen war Gertrud Gréciano epistemologisch und theoretisch eine Visionärin, mit der es als DoktorandIn oder KollegIn nicht immer leicht war, Schritt zu halten. Aber wie bereichernd war der Umgang mit ihr! Davon konnten wir – als damalige DoktorandInnen – immer profitieren, sei es am Straßburger Institut oder bei ihr zuhause in Saverne und in Tirol, im familiären Umfeld, wo so viele die letzten Versionen ihrer Dissertation mit ihr zusammen besprachen und korrigierten. Viele Mitglieder der Europhras-Gesellschaft haben dort ebenfalls schöne Stunden verbracht.

Die 2001 zu ihrer Ehre von Prof. Dr. Annelies Häcki Buhofer, Prof. Dr. Harald Burger und mir im Schneider Verlag herausgegebene Festschrift (Phraseologiae Amor) zeugt von dieser gewaltigen Forschungsleistung und listet ihre zahlreichen Publikationen auf. Ihre vielen Verdienste wurden auch durch mehrere Auszeichnungen anerkannt: Gertrud Gréciano war Mitglied der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste, Trägerin des Großen Silbernen Ehrenzeichens für Verdienste um die Republik Österreich, des Österreichischen Ehrenkreuzes für Wissenschaft und Kunst 1. Klasse, des Offizierskreuzes des Rumänischen Verdienstordens, des Prix Strasbourg (FVS Stiftung) und der Olympia-Medaille (Pressezentrum), Innsbruck.

Wir werden ihr stets ein ehrendes Andenken bewahren.

About the author

Gautier Laurent
Published Online: 2020-12-01
Published in Print: 2020-11-25

©2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

Downloaded on 25.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/phras-2020-0010/html
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