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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 11, 2020

Interfiguralitätsstrategien: Fontanes realistische Melusine als transfiktionales Phänomen

  • Paula Wojcik EMAIL logo
From the journal arcadia

Abstract

Realistic conceptions of genuinely fantastic literary or mythical characters, such as Theodor Fontane’s Melusine, represent what Umberto Eco refers to as “floating individuals.” These characters are transfictional as they are highly decontextualized from their narrative origin and thus a challenge for intertextuality and intermedia studies: the name implies a relationship with another text or medium but the representation does not offer any information about the relationship’s quality. To examine the range of (re-)presentation strategies and to shed some light on the transfictional background of the character as it is represented in Theodor Fontane’s novel Der Stechlin, I borrow ‘interfigurality’ as an umbrella term from Wolfgang G. Müller. Fontane’s myth-reflexive intermedia strategies come fully to the fore in contrast with the unknown novel Lady Melusine by Eufemia von Ballestrem on the one hand and in comparison with contemporary art on the other. The localization within an intermedia network reveals that the practice of the literary re-production of realistic characters as a “work on myth” (Blumenberg) is reflexive and critical or affirmative towards popular usage such as branding, labeling, or namedropping.

Ich kannte einen Kapitän, der in seiner Kajüte eine Melusine als Lampe hatte, die von malaiischen Balsamierern aus seiner ermordeten Geliebten gefertigt worden war. Auf dem Kopf hatte sie ein riesiges Hirschgeweih. (Schulz 65)

In Bruno Schulzʼ Erzählsammlung Die Zimtläden aus dem Jahr 1934 findet die Gestalt der Meerjungfrau ganz am Rande in einer überdrehten philosophischen Abhandlung mit dem Titel Traktat über die Schneiderpuppen Erwähnung. Das Traktat, das in seiner ebenso überbordenden Metaphorik wie assoziativen Logik eine Parodie scholastischer Argumentationskunst ist, zirkuliert thematisch um Metamorphosen der Materie. Die Differenz von Organischem und Anorganischem wird mit irritierender Aufwertung der Mangelware, des Tands herangezogen, die in den Expektorationen des Sprechers den Status einer verbesserten Schöpfung einnehmen. Und so ist das Wasserwesen Melusine bei Schulz keine geheimnisvoll bezaubernde femme fatale, sondern verkörpert als Teil der Zimmereinrichtung das Superlativ einer unvollkommenen Existenz: „In der Stille der Kajüte hob der zwischen den Geweihstangen an der Decke befestigte Kopf langsam die Augenwimpern; zwischen den halbgeöffneten Lippen glitzerte ein Speichelfilm, der beim leisen Flüstern riß.“ (65) Dass Schulz Melusines Kopf von der Stoffgeschichte entkoppelt, fischschwanzlos und medusenhaft weniger als ein kohärentes Narrativ, denn als vage Allusion in der Kajüte platziert, ist ein Beispiel für den transfiktionalen Status (Saint-Gelais), den die Figur zu Beginn des 20. Jahrhunderts erreicht hat.

Die Emanzipation der Figur von ihrem Narrativ lässt sich vor dem Hintergrund einer Popularisierung im 19. Jahrhundert einordnen, deren Anfänge ins Mittelalter zurückreichen: Die Melusinensage (Jean D’Arras, ca. 1393), Versadaption von Coudrette (ca. 1400) und das deutschsprachige Volksbuch von Thüring von Ringoltingen (1456), wird im Drama (Hans Sachs, 1556), im galanten Roman (Jean Nodot, 1698), in der Verserzählung (J. W. F. Zachariae, 1772) oder als Chantefable (Ludwig Tieck, 1800) fort- und umgeschrieben.[1] In diesen Versionen ist Melusine noch die Ahnherrin des Geschlechts der Lusignan, dessen Schicksal durch den Tabubruch ihres Ehemanns Raymond/Reymundt beeinflusst wird. Er betrachtet seine Frau verbotenerweise im Bade, entdeckt den Drachen- bzw. Schlangenschwanz und damit ihr übernatürliches Wesen. Es ist kein Geheimnis, dass im Grunde keiner der genannten Texte vermochte, was Friedrich de la Motte Fouqué mit seinem Erwachsenenmärchen Undine (1811) leistete, das zum Libretto umgearbeitet, von E. T. A. Hoffmann vertont und von Karl Friedrich Schinkel mit opulentem Bühnenbild ausgestattet zu einem Opernhit wurde (UA 1816): Die Wasserfrau zu einer internationalen Mode werden zu lassen. In Osteuropa erobert sie als Rusalka/Rusałka Literatur und Oper, in Westeuropa verschmelzen die Wasserfrauen Melusine und Undine in der Rezeption so weit, dass die Forschung zuweilen von „Melundine“ spricht (Steinkämper 308). Mit Hans Christian Andersens Kleiner Meerjungfrau (1837) wird ein Popularisierungsschub fortgesetzt, der – um nur einige Beispiele zu nennen – von Oscar Wildes The Fisherman and his Soul (1891) über Disneys Arielle (1989), Hayao Miyazakis Ponyo (2008) oder Guillermo del Toros Shape of Water (2017) bis heute (Christian Petzolds Undine, 2020) globale Ausmaße erreicht. Kurzum: Die Repräsentationen der Wasserfrau sind Legion, in der sich nicht nur literarische Beispiele reihen, sondern neben dem Film und der Oper vor allem auch die bildenden Künste stehen. In diesen Reihen finden sich wiederum einzelne Fälle, die – um bei der etwas martialischen Metapher zu bleiben – das Fähnchen der Melusine zwar schwenken, aber keine Uniform tragen, die sie als Teil des Heeres erkenntlich machen würde: die realistischen Melusinen.

Es sind menschlich weibliche Figuren, die den Namen Melusine tragen, jedoch nicht mehr in das Narrativ rund um die wöchentliche Verwandlung und den Tabubruch eigenbettet sind. Als von ihren ursprünglichen Kontexten losgelöste „fluctuating individuals“ (Eco 86–89) sind sie eine Herausforderung für die textbasierte Hermeneutik, weil die Namensnennung zwar einen intertextuellen Charakter konstatiert, jedoch weder den Prätext festlegt noch die Qualität definiert, in welcher sich die Figur zur Rezeptionsgeschichte verhält. Ohne die bekannten Merkmale macht die Namensnennung zunächst nur auf den transfiktionalen Charakter der Figur aufmerksam. Um die Spielarten dieser Figurenpräsenz näher zu beschreiben, möchte ich sie, einen nie wirklich populär gewordenen Vorschlag Wolfgang G. Müllers aufgreifend, als Ausprägungen von „Interfiguralität“ verstehen. Der Begriff hilft, sich aus ihren originären Produktionskontexten verselbständigende literarische Figuren zu analysieren, ohne ihre Qualität zu antizipieren, was insbesondere geschieht, wenn sie von vornherein als Mythos-réécriteure aufgefasst werden. Als interfigurales Phänomen steht „Melusine“ zunächst neben „Rotkäppchen“[2] wie neben „Dagobert Duck“ und es obliegt der genaueren Analyse festzulegen, ob der Name nur metonymisch bestimmte Motive, Kontexte oder Aspekte wie Fischschwanz oder Meereswelt aufrufen soll, ganz so wie der Name Dagobert Duck Entenschnabel und unermesslichen Reichtum evoziert, oder ob sich der Text in die Tradition der intertextuellen und intermedialen Bearbeitungen des Mythos einschreiben will. Wie groß die Spannweite möglicher Strategien ist, Figuren dekontextualisiert in einem transfiktionalen Universum zu verorten, soll vorgeführt werden, indem der intermediale Kontext des Stechlin (1898) von Theodor Fontane aufgearbeitet und ihm kursorisch der Unterhaltungsroman Lady Melusine (1878) von Eufemia von Ballestrem gegenübergestellt wird.

Unter dem Konzept der Interfiguralität lässt sich vereinen, was traditionell in unterschiedlichen Fachrichtungen diskutiert wird. Die Mythosforschung untersucht diachron die Transformationen von mythischen Figuren im Kontext ihrer kulturellen Funktionen (vgl. exemplarisch Schlaffer; Matuschek). Die sich mit Figuren beschäftigende Transfiktionalitäts- und Serialitätsforschung (Bech Albertsen; Mayer; Denson und Mayer, „Bildstörung“; Denson und Mayer, „Border Crossings“; Denson und Mayer, „Grenzgänger“) lenken den Blick darauf, dass nicht nur antike oder religiöse Mythen in Kulturen und ihren Medien zirkulieren, sondern auch sich verselbständigende Figuren der Gegenwarts- und Populärkultur mediale und kulturelle Grenzen überschreiten. Beiden ist gemeinsam, dass sie Figuren iterativ in dem Sinne verstehen, als die Repräsentation einzelner in einem gegebenen Kontext zwar singulär ist, jedoch immer auf die Gesamtheit verweist. Das unterscheidet Interfiguralität auch vom transmedia storytelling (Jenkins „Transmedia“; Jenkins, „Aesthetics“; Ryan; Thon und Ryan), weil es sehr viel stärker von der individuellen Conditio der Rezipientin abhängt, die dekontextualisierte Repräsentation im Repräsentationenuniversum zu verorten, Anspielungen zu decodieren, sich bestätigende oder einander widersprechende Informationen abzugleichen und so eine transmediale Figurenbiografie zu erkennen. Sind transmediale narrative Universen als zusammenhängend gekennzeichnet, so bewegt sich die Spannweite der Interfiguralitätsstrategien, mit denen die Arbeit am Mythos verrichtet wird, zwischen Allusion und Mythenreflexion.

1 Realistische Melusinenentwürfe als Beschreibungs- und Rezeptionsproblem

Die Eigenheit realistischer Schreibweisen der Wasserfrauenfigur besteht zunächst in einem Mangel, weil die Meerjungfrau ihren Status als das genuin und erkennbar Andere verliert. Sie ist keine Besucherin aus der Wasserwelt, keine wasserstämmige Migrantin mit Integrationsschwierigkeiten, sondern selbstverständlicher und motivisch nicht als andersartig markierter Teil eines realistischen Weltentwurfs. Ein entscheidendes Moment, das sie von anderen wunderbaren Frauengestalten unterscheidet, macht ein realistischer Figurenentwurf unkenntlich: ihr Vermögen, die Gestalt zu verwandeln und dadurch Grenzen zwischen Welten zu überschreiten. Die Figur ohne diesen narrativen Kontext zu erkennen, erfordert kulturelles und literarisches Vorwissen.

Die Rezeptionsproblematik wird in transkultureller Perspektive evident: International ist die Meerjungfrau bis in die letzten Ecken der Massenkultur präsent, sie trägt allerdings unterschiedliche Namen. Während es in Deutschland eine stabile Melusinen-Rezeption gibt, zu der nicht nur die bekanntesten Autoren wie Johann Wolfgang v. Goethe, Ludwig Tieck, Franz Grillparzer, Jakob Wassermann oder eben Fontane beigetragen haben, sondern auch einige heute weniger bekannte oder vergessene – mit realistischen Melusinenentwürfen: Eduard von Bülow (1848), Karl Frenzel (1860), Paul Heyse (1894), Oskar Schmitz (1928) – wurde ihr in Osteuropa seit der Romantik unter dem Namen Rusalka/Rusałka bzw. Świtezianka literarisches Leben eingehaucht. Auch wenn das auf Ringoltingens Version basierende Volksbuch in Übersetzungen seit der Renaissance in slavischen Ländern verbreitet wurde, ist die Bezeichnung der Wasserfrau als ‚Melusine‘ dort weit weniger bekannt als im deutschsprachigen Raum. Es macht so gesehen also einen gewaltigen Unterschied aus, ob Bruno Schulz oder Theodor Fontane den Namen fallen lassen. Selbst vorsichtig schätzend, können wir davon ausgehen, dass das durch die Sprache präfigurierte Zielpublikum in Fontanes Fall mit ‚Melusine‘ als Metonymie eines literarisch kontinuierlich bearbeiteten Wasserfrauen-Stoffes vertrauter ist als das von Bruno Schulz.

Wird das Problem transkulturell evident, lässt es sich auf die Rezeption innerhalb von Sprachgemeinschaften übertragen, die, obwohl sie sich auf eine gemeinsame Literaturtradition berufen, selbstredend nie homogen sind. Üblicherweise beziehen Rezeptionshypothesen ihre Validität aus produktionsorientierten Parametern wie Gattungserwartungen oder einer im Text formulierten Rezeptionsaufforderung. Insbesondere die Mythenforschung arbeitet mit dem Konzept einer überaus professionellen Leserin, wenn sie als Unterscheidung zwischen mythischen und nichtmythischen Figuren das Bewusstsein der Quelle nennt. Das lässt sich beispielsweise bei Theodore Ziolkowski gut beobachten, der als einer der ersten explizit auf das Phänomen der Interfiguralität verwiesen hat, es jedoch metaphorisch als „Figuren auf Pump“ oder „figures on loan“ bezeichnet. Das Bild der Leihgabe ermöglicht es ihm, den Unterschied zum Mythos zu betonen (Ziolkowski 130), weil es einen ursprünglichen Besitzer impliziert, von dem eine Figur nur geborgt sei. Diese Unterscheidung funktioniert indes nur, wenn man ein universell gegebenes Wissen annimmt, dass zwischen Mythos und Leihgabe zu unterscheiden hilft. Will man nicht von einem kollektiven Mythenbewusstsein ausgehen, so muss man anerkennen, dass der simple Befund der Iterativität offen lässt, ob jemand, um ein von Ziolkowski angeführtes Beispiel aufzugreifen, den Namen ‚Faust‘ lesend, an das Volksbuch Historia von D. Johann Fausten, dem weitbeschreiten Zauberer und Schwarzkünstler, Christopher Marlowes Tragicall History of D. Faustus, Goethes Faust oder aber an die Deodorantwerbung im heimischen Fitnessstudio denkt, einen nur vagen oder gar keinen literarischen Bezug herstellend.[3]

Die realistischen Adaptionen der Melusinenfigur führen die Kategorie Mythos als ein Rezeptionsproblem vor Augen: Da sie sich sowohl dem Narrativ der Fisch-Mensch-Transformation als auch einer im Meer lokalisierten Gegenwelt verweigern, ist es zwar möglich, dass die Texte ein literarisches Gedächtnis des idealen Lesers aktivieren, der nicht nur den Mythenursprung, sondern auch die zahlreichen Manifestationen der Arbeit am Mythos kennt. Genauso wahrscheinlich ist jedoch, dass sie als Anspielung, Assoziation oder Allusion eine individualisierte und damit unkalkulierbare Größe bleiben. Dann eröffnet der Mangel ein neues Potenzial, weil die Leerstelle assoziativ gefüllt wird. Die Wahrscheinlichkeit der assoziativen Lesart steigt also, je weiter die kulturelle Distanz entweder im nationalkulturellen Sinne ist oder aber je weiter sich die Leserschaft von jenem professionalisierten Leserideal entfernt, das das fünf Jahrhunderte Rezeptionsgeschichte aufrufende literarische Palimpsest durchschaut, wenn es den Namen ‚Melusine‘ liest.

Die Rezeptions- weist auf die Darstellungsproblematik zurück. Die Spannweite der Figurenqualitäten ist auch eine methodische Herausforderung für die Literaturwissenschaft, was sich in der einschlägigen Forschung widerspiegelt. Keiner der Texte, die mit dem Titel auf Melusine verweisen und sie unmarkiert in neue narrative Zusammenhänge einbetten, kommt in Monika Schmitz-Emans einschlägigen Arbeiten vor (Seetiefen und Seelentiefen; Fortgesetzte Metamorphosen). Claudia Steinkämper räumt dem Stechlin zwar viel Platz in ihrer Untersuchung ein, doch betrachtet sie die realistische Figur der Melusine Barby ausschließlich im Kontext ausgewählter weiblicher Figuren in Fontanes Texten (343–423).

Dabei – das sei als Ergebnis vorweggenommen – verbindet die realistischen Melusinen bei allen Unterschieden in der Darstellungsweise die Funktion, weil ihre Doppelnatur auf eine soziokulturelle Ebene übertragen wird. Der kursorische Vergleich mit dem wenig bekannten Roman Lady Melusine von Eufemia von Ballestrem wird zeigen, dass bei ihr wie Fontane die körperlich manifestierte ontologische Hybridität der Fischfrau zur Interpretations- und Aushandlungsfigur kultureller Hybridität avant la lettre wird. Der Befund der Transfiktionalität erschöpft sich demzufolge nicht in der Feststellung unmarkierter Präsenz, sondern verweist darüber hinaus auf eine thematische Solidarität der Repräsentationsfunktionen. Die dahinterstehenden Interfiguralitätsstrategien unterscheiden sich allerdings drastisch, indem sie das ‚Inter‘ der Figuralität entweder in einem komplexen intermedialen Verweisnetz ausstellen und produktiv werden lassen oder einen Vorstellungsvorrat allusorisch aufrufen, diesen jedoch weder kenntlich noch produktiv machen.

2 Transmedialität als Interfiguralitätsstrategie: Zeitdiagnostik und Mythosreflexion in Theodor Fontanes Stechlin

Fontanes Stechlin eröffnet in einer betont entschleunigten Weise[4] das Panorama einer sich selbst bereits als beschleunigt und dynamisch wahrnehmenden Zeit. Als „Epochenporträt des ausgehenden 19. Jahrhunderts“ (D’Aprile 8) macht er Geltungsverlust der althergebrachten politischen Ideale und sozialen Strukturen, ein neu zu definierendes Verständnis des ‚alten‘ Adels, um das sich insbesondere die Hauptfigur Dubslav von Stechlin bemüht, eine durch Transportmittel und Kommunikationsmöglichkeiten zusammenrückende Welt und nicht zuletzt neue künstlerische Strömungen zum Gegenstand der Gespräche, die den Roman formal kennzeichnen. Symbolisch hält das Nebeneinander der Stechlin-See zusammen, der die brandenburgische Provinz mit dem Weltgeschehen verknüpft: Der Legende nach „brodeltʼs [...] und sprudelt und strudelt der See [...], wenn es weit draußen in der Welt, seiʼs auf Island, sei’s auf Java zu rollen und grollen beginnt“ (Fontane 7), und wenn etwas wirklich Außergewöhnliches geschieht, so „steigt statt des Wasserstrahls ein roter Hahn auf und kräht laut in die Lande hinein“ (7). Damit hat der See nicht nur an den großen Veränderungen in der Welt teil, sondern ist auch gegenwärtiges Zeugnis einer mythischen Vergangenheit, was von der Figur des Doktor Wrschowitz bildlich beschworen wird: „Er [der See] hat Weltbeziehungen, vornehme, geheimnisvolle Beziehungen [...]. Er steht mit den höchsten und allerhöchsten, deren genealogischer Kalender noch über die Gothaischen hinauswächst, auf du und du.“ (159)

Wie der See ist auch das Thema der Transformation auf synchroner und diachroner Achse doppelt codiert, indem historische und geografische Dimension zusammenkommen. Beide Achsen sind auch der Gräfin Melusine von Barby eingeschrieben: Als Tochter eines Deutschen und einer Schweizerin, die in England aufgewachsen ist und einen Italiener heiratete (145–146) repräsentiert die Kosmopolitin in der brandenburgischen Provinz wie der See die Welt. Die geschiedene Raucherin (284) wird als eine Konventionen sprengende, moderne Frau wahrgenommen und verkörpert die Veränderung nicht zuletzt eines tradierten Frauenbildes, ohne sich von ihm gänzlich zu lösen.

Da es mir um Fontanes Interfiguralitätsstrategien gehen wird, werde ich weitgehend undiskutiert lassen, was von der Forschung als Deutungslinien profiliert wurde: zum einen die Wasserfrau als Fontanes idée fixe in unterschiedlichen Texten[5] oder biografisch (Paulsen 107–164) nachzuvollziehen und zum anderen sie in einer rein genderorientierten Lesart zu deuten (u. a. Stuby; Menke; Bovenschen). Wie ihre weiblichen Mitstreiterinnen Lilith, Lulu, Salomé oder Dalilah hat Melusine selbst ex negativo Anteil an zeitgenössischen Weiblichkeitsidealen und Geschlechterverunsicherungen. Doch zur literarischen Melusinen-Biografie gehört nicht nur, dass sie eine faszinierende und zugleich gefährliche Frau ist – diese Zuschreibung trifft auf viele ansonsten sehr disparate Frauentypen und -mythen wie die sogenannten schönen Jüdinnen, Medea oder Helena zu –, sondern vor allem, dass sie ihre Gestalt verwandeln und dadurch Grenzen zwischen Welten zu überschreiten vermag. Ihrer Transformationsfähigkeit ist ein Grenzgängertum eingeschrieben, das den Topos der Fremdheit auf den Plan ruft. Folgt man Monika Schmitz-Emans, wird sie zur Verkörperung von Fremd- und Andersheit in einer sich selbst als rational und aufgeklärt wahrnehmenden Welt (33).

In den fantastischen Texten ist diese Alterität gesetzt. Wie aber verhält es sich mit jenen, in denen keine als wunderbar markierte Andersheit vorliegt? Schließlich ist Fontanes Melusine nicht sichtbar anders. Sie fordert zwar die Gesellschaftskonvention heraus, doch gehört sie selbstverständlich zur Gesellschaft dazu. Sie bricht mit konservativen Rollenvorstellungen und erscheint dennoch vor allem als Frau, die die bestehende Geschlechterordnung nicht ernstlich bedroht. Im Unterschied zu ihren wunderbaren Vorgängerinnen, die „in der Regel [...] durch einen essentiellen Mangel [charakterisiert sind]“ (Bovenschen 364), ist sie weder erlösbar noch erlösungsbedürftig, weder hat noch empfindet sie ein Defizit: Es gibt kein Verlangen nach einer Seele, kein dynastisches Interesse, nicht einmal Liebe, die eine Heirat und Verwandlung motivieren könnten. Ihr ist das Vorher-Nachher-Narrativ der märchenhaften Melusinen abhandengekommen.

Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass Fontane sich intermedialer Strategien bedient, um die Funktionsweise des Mythos auszustellen und die Figur doppelt, sowohl diagnostisch als auch mythosreflexiv, auszudeuten.

3 Melusines diagnostische Funktion

Dass Melusine als Romanfigur selbst keine nennenswerte Transformation durchmacht, stattdessen zu ihrer hybriden Verkörperung wird, profiliert den Mythos tatsächlich neu. Es verleiht ihm die Funktion, die abstrakte Vorstellung der eigenen Gegenwart als Zeit eines Übergangs vom Vergangenem zum Zukünftigen zu verbildlichen – in der Figur der Meerjungfrau, eines Hybrids aus Mensch und Fisch.[6]

Folgt man dem Gedanken, wird deutlich, dass Hybridität als Gegenwartsdiagnose im Roman in einer Reihe einzelner Motive entfaltet wird: Das Schloss Stechlin wird geradezu kontradiktorisch als ein in die Tage gekommener „Neubau“ (8) beschrieben. In der Anekdote von einer ‚revirginalisierten‘ Prinzessin begegnen wir einem Hybrid, einer Jungfrau und Nicht-Jungfrau zugleich (198–200) und in der von der spektakulären Verjüngungskur, einer alten und zugleich jungen Dame (257). Am vielschichtigsten aber verkörpert Melusine Hybridität unterschiedlicher Qualität: Sowohl mit Blick auf ihre kulturelle Identität als auch den von ihr repräsentierten zwischen Emanzipation und Tradition schwankenden Weiblichkeitsentwurf ist sie immer das eine und dessen Gegenteil zugleich: Deutsche und Nichtdeutsche, Schweizerin und Nichtschweizerin, Engländerin und Nichtengländerin, modern und traditionell weiblich, so wie die Meerfrau auch immer Nichtmensch und Mensch, Nichtfisch und Fisch ist. Alterität und Identität in einem und zugleich auch was ihren sozialen Status betrifft. Eingeführt wird sie als „Witwe – das heißt eigentlich nicht Witwe, sondern richtiger eine gleich nach der Ehe geschiedene Frau. Sie war nur ein halbes Jahr verheiratet, oder vielleicht auch nicht verheiratet.“ (124)

Dieses Sowohl-als-auch wird in Kommentaren und Bemerkungen entfaltet. In einem Gespräch über die Präraffaeliten, in dem kurz zuvor John Everett Millais, der Schöpfer der ertrunkenen Ophelia als einer weiteren berühmten ‚Wasserfrau‘ (Stuby 163), ausführlich thematisiert wird, macht der Malerprofessor Cujacius eine irritierende, weil nicht weiter aufgeschlüsselte Bemerkung über die zeitgenössische Kunst, die sich wie ein Kommentar zur Hybridität der Mischwesen liest: „Am elendsten aber sind die paktierenwollenden Halben. Zwischen schön und häßlich gibt es nichts zu paktieren.“ (Fontane 239) Seinen Monolog unterbricht passenderweise Melusine, indem sie den letzten Halbsatz abwandelt, um das Thema zu wechseln: „Und schön und häßlich“ (239, Kursivschrift im Original) setzt sie an. In der unauffälligen Änderung kommt ein Synthesebestreben zum Ausdruck, in dem an anderer Stelle auch Vergangenheit und Zukunft in der Gegenwart verschmelzen: „Ich respektiere das Gegebene. Daneben freilich auch das Werdende, denn eben dieses Werdende wird über kurz oder lang abermals ein Gegebenes sein.“ (270) In Melusines Figur verdichtet sich das Thema der sich transformierenden Zeit, jedoch gerade nicht im Sinne einer Metamorphose, als einem zeitlich geordneten Vorher-Nachher-Zustand, den Monika Schmitz-Emans als „mögliche Strategie der Darstellung von Zeitlichkeit“ (Schmitz-Emans, Fortgesetzte Metamorphosen 13) untersucht. Weil sich Melusine gar nicht verwandelt, dient nicht die Metamorphose der Darstellung der Zeit, sondern es ist die hybride Figur der Fischfrau, die zum Deutungsinstrument der eigenen Gegenwart wird.

Um auf eine Fischfrau-Melusine außerhalb des Textes zu verweisen, webt Fontane eine Anzahl von Bemerkungen ein, denen die literaturwissenschaftlich bewanderte Leserin oder der detektivisch veranlagte Leser nachspüren können. Dazu gehören zahlreiche Anspielungen[7] auf das Element Wasser oder den Sagenstoff und nicht zuletzt die Tatsache, dass Melusine Barby zum Schluss das Wort ergreifen und als neue Stammesmutter das Fortbestehen der ‚Dynastie‘ verkünden darf (388). Zu den Verweisen zählen auch solche, die auf Medien außerhalb des Textes verweisen. Fontanes Melusinen-Mythos ist ein transmedialer, der Literatur und bildende Kunst gleichermaßen als mythenkonstitutiv behandelt, auch wenn die bildenden Künste nicht im unmittelbaren Verhältnis zum mythischen Narrativ stehen.

Im Gespräch mit seinem Arzt Dr. Sponholz spricht Dubslav von einem „sehr berühmten Malermenschen, der, glaubʼ ich, Böcking oder Böckling hieß“ (320). Der subtile Witz, jemanden als sehr berühmt zu bezeichnen und gleichzeitig dessen Namen nicht zu kennen, stellt das Verhältnis seiner Generation zur zeitgenössischen Kunst als einem Wissen aus, das nicht kanonisch gesichert und gefestigt ist. Doch ist die Erwähnung des Künstlers mehr als nur ein Symptom dafür, dass die Deutungshoheit der Alten über Bildungs- und Kulturfragen zunehmend zurückgeht – zumal sie kein Einzelfall ist. Eine flammende Rede des oben bereits erwähnten Cujacius auf die Kohlezeichnung eines Tubabläsers des für seine religiöse Malerei bekannten Peter Cornelius kommentiert Melusine: „Mir persönlich ist die Böcklinsche Meerfrau mit dem Fischleib lieber. Ich bin freilich Partei.“ (205) An dieser Bemerkung ist nicht so sehr die von der Forschung hervorgehobene, jedoch nie eingeordnete (Schäfer 90; Thomeier 113–114) identifikatorische Anspielung von Bedeutung, die ein Aperçu bleibt. Die Gegenüberstellung des zum jüngsten Gericht rufenden Tubabläsers, einer Kohlezeichnung auf Karton, mit Arnold Böcklins meist in Öl realisierten Meerwesen ist kaum logisch nachvollziehbar. Sie wird es, wenn man in den Bildern zwei Welthaltungen repräsentiert sieht. Dem Untergangsbewusstsein, „diese[r] jetzt etablierte[n] Niedergangsepoche“ und „Zeit des Abfalls“ (Fontane 205), die der Redner albernerweise vor allem in der Tatsache manifestiert sieht, dass Malfarben nicht mehr in Schweinsblasen, sondern in Tuben aufbewahrt werden, setzt Melusine ihre Identifikation mit der „Böcklinsche[n] Meerfrau“ (205) entgegen. Sie bringt das im Roman beständig kolportierte Weltbild zum Ausdruck, dessen Gegenwartsverständnis als Synthese aus Vergangenheit und Zukunft keinen Platz für die Glorifizierung des Vergangenen, sondern höchstens für Nostalgie lässt.

4 Melusines mythosreflexive Funktion

Warum aber ausgerechnet Böcklin und nicht einer der vielen anderen, die neben Nixen, Najaden, Nymphen, Sirenen auch die Lorelei, Ophelia oder die Venus als Bildmotive verwendeten oder auf das Narrativ referierende Gemälde und Skulpturen von Gabriel von Max, William Waterhouse, Julius Hübner oder Chauncey Bradley Ives? Das Spektrum bildlicher Präsenz von Wasserfrauen oder Frauen im Wasser um 1900 ist kaum überschaubar. Dass auf ihnen häufig eine aus heutiger Sicht kritische Konstellation vorherrscht, in der die (Wasser-)Frau zum Objekt männlicher Betrachtung gerät, wurde öffentlich zuletzt diskutiert, als Waterhouseʼ Hylas and the Nymphs durch eine Performance im Kontext der MeToo-Bewegung in die Schlagzeilen geriet. Der Voyeurismus ist dem Melusinen-Stoff eingeprägt: Guillebert de Metsʼ 1410 entstandenen Drucke zeigen, wie die männliche Figur Melusine durch ein mit dem Schwert in die Tür hineingebohrtes Loch im Bad beäugt (Abb. 1). Steht mit dem Drachenschwanz hier noch das eigentliche Skandalon im Fokus des Interesses und Vordergrund des Bildes, so verschwindet dieser in Julius Hübners Darstellung von 1844 schattenhaft im Hintergrund (Abb. 2) – stattdessen wird die nackte Brust intensiv ausgeleuchtet. Anders ist auch die Figurenanordnung: Sind Reymundt und Melusine bei de Mets noch auf Augenhöhe, so nimmt der männliche Part bei Hübner jene von oben auf das Objekt herabschauende Perspektive ein, die auch bei Waterhouse vorherrscht.

Abb. 1 Guillebert de Mets: Raimondin enthüllt das Geheimnis der Mélusine (1410)
Abb. 1

Guillebert de Mets: Raimondin enthüllt das Geheimnis der Mélusine (1410)

Abb. 2 Julius Hübner: Melusine (1844)
Abb. 2

Julius Hübner: Melusine (1844)

Die hierarchiestiftende Figurenanordnung setzt sich für Wasserfrauendarstellungen durch und kennzeichnet vor allem den Jugendstil. Heinrich Vogelers Illustration zur deutschsprachigen Ausgabe von Oscar Wildes The Fisherman and His Soul (1904, Abb. 3) zeigt den Jüngling, der die in Wildes Märchen kaum auftretende Meerjungfrau in einem Netz hält: Sie, hilflos entblößt, die Brust gut sichtbar zum Betrachter wendend, er, sich aus dem Boot über sie beugend. Da sie gar keinen Fischschwanz besitzt, scheint das Thema hier einen Vorwand zu bieten, weibliche Nacktheit zu inszenieren – zumal die Zeichnung ein entscheidendes Motiv des Märchens in den Hintergrund rücken lässt: Die fehlenden Beine sind ursächlich für den Verrat und tragischen Ausgang der Geschichte.[8]

Abb. 3 Heinrich Vogelers Illustration zu Oscar Wildes The Fisherman and his Soul (1904)
Abb. 3

Heinrich Vogelers Illustration zu Oscar Wildes The Fisherman and his Soul (1904)

Abb. 4 Gustav Klimt: Fischblut (1897/1898)
Abb. 4

Gustav Klimt: Fischblut (1897/1898)

Im 19. Jahrhundert sind es vor allem die Präraffaeliten, Neoklassizisten und Jugendstil-Künstler, die Variationen erotisch-dämonischer Wasserfrauen inszenieren, wodurch die Verbindung von Weiblichkeit mit dem abgründig ungreifbaren Element konsolidiert wird. Wie groß die Faszination des Melusinen- und Undinen-Themas für die bildenden Künste um 1900 und insbesondere für Vertreter des Jugendstil war, lässt sich bei Jost Hermand und Beate Otto nachlesen. Hermand liefert überdies eine pragmatische Erklärung dafür, warum ausgerechnet die Wasserfrau zum beliebten Motiv wurde, obwohl es auch andere „Urformen des Weiblichen“ (482) gebe, die einen intellektualisierten (bei Hermand: „ideologischen“) Vorwand böten, Aktbilder zu produzieren und zu rezipieren. Ihm zufolge ließen sich die schwimmfähigen Geschöpfe „in rhythmisch-ondulierender Bewegung [...] mit ihren langen, flutenden Haaren und zarten Gliedmaßen“ (482) einfacher in die bevorzugte ornamentale Linienführung einpassen.

Die Darstellungstradition zitiert nahezu ungebrochen eine Demarkationslinie: Der nicht sichtbare und dadurch geschützte Betrachter bestaunt das exponierte Andere, dessen einziger Zweck es zu sein scheint, bestaunt zu werden. Ob im Bild dargestellt oder konzeptuell integriert, schaut er wie Reymundt durch das Türloch, um (erotisch konnotierte) Andersartigkeit zu erkennen – selbst wenn sie gar nicht da ist. Bei Klimt etwa ist zu beobachten, wie sich die menschlich aussehenden Wasserfrauen dem Betrachter aussetzen bzw. sich ihm wie Aquariumsfische gar nicht entziehen zu können scheinen. In Fischblut (1897/1898, Abb. 4) treiben die Frauenfiguren mit schlanken, langen Gliedmaßen und wallendem Haar mit dem Wasserstrom. Ihre Posen – auf dem Rücken schwimmend, mit halbgeschlossenen Augen, die Arme nach hinten geworfen – betonen die Nacktheit und bieten sie dem Betrachter dar. Ähnlich bezieht auch Goldfische (1901, Abb. 5) den Betrachter ein, auf dem die zentrale Meerfrau neckend über die Schulter nach ihm blickend ihre Rückenansicht samt Hinterteil präsentiert. Auch wenn der Bildtitel nicht auf Undine verweist, so lässt sich die Figur am roten (häufig auch rotblondem) Haar (vgl. Steinkämper 368) und in einer Referenz zu Paul Gaugins Dans les vagues, ou Ondine (1889, Abb. 6), das Klimt offensichtlich zitiert, erkennen. Die Exotisierung geht mit Erotisierung und Dämonisierung einher.

Abb. 5 Gustav Klimt: Goldfische (1901)
Abb. 5

Gustav Klimt: Goldfische (1901)

Abb. 6 Paul Gaugin: Dans les vagues, ou Ondine (1889)
Abb. 6

Paul Gaugin: Dans les vagues, ou Ondine (1889)

Bei Böcklin indes gerät der Betrachter unvermittelt in Szenerien, die nichts phantastisch Entrücktes haben. Spiel der Nereiden wie auch andere Gemälde – Meeresstille, Im Meere und See Idylle etwa (alle 1886 bzw. 1887, Abb. 7–8) – zeigen ein selbstbezügliches Beisammensein, bei dem der Culture clash Mensch vs. Nichtmensch, der zentral für das Motiv der gestörten Mahrtenehe ist, oder Natur vs. Zivilisation, der wiederum im Undinennarrativ aufgerufen wird, fehlen. Die Figuren wirken auch nackt nicht wie hilflose Objekte, allein schon, weil sie nicht im Sinne der Jugendstilästhetik oder des Neoklassizismus gefällig schön sind. Schon Heinrich Wölfflin spricht Böcklin von dem Vorwurf des Erotisierens frei, indem er dessen Wasserwesen als „rote kreischende Fischweiber“ von den „mädchenhaften Nixen, mit denen sonst ein falsches Interesse an der Szene hineingebracht wird“ unterschieden wissen will (117).

Abb. 7 Arnold Böcklin: Meeresstille (1886/1887)
Abb. 7

Arnold Böcklin: Meeresstille (1886/1887)

Abb. 8 Arnold Böcklin: Spiel der Nereiden (1886)
Abb. 8

Arnold Böcklin: Spiel der Nereiden (1886)

Das wird dort anschaulich, wo der Blick des Betrachters thematisiert wird wie in Meeresstille, auf dem jene „Böcklinsche Meerfrau“ zu sehen ist, die vielleicht auch Melusine Barby vor Augen hat. Die Fischschwanzige, auf die der Blick fällt, schaut weder neckend noch scheu, sondern, wie den Betrachter ignorierend, an ihm vorbei. Unter der Wasseroberfläche treibt ein männliches Meerwesen, das ihn mit verzerrtem Gesicht fixiert. Die Betrachterperspektive wird integriert, dient aber nicht dazu, die Meerfrau dem Blick auszusetzen. Vielmehr wird der Betrachtende im Betrachtungsvorgang selbst zum Betrachteten, was als reflexive Strategie wiederum auf die Literatur und insbesondere auf Fouqués Undine verweist. Dort, man kann es so vereinfacht ausdrücken, beobachten die Lesenden den bzw. die Beobachtenden. Der Text eröffnet eine metareflexive Ebene, auf der er den vorwiegend männlichen Blick als einen entlarvt, in dem Anders- und Unbegreiflichkeit des Weiblichen überhaupt erst entstehen. Während Undines im amoralischen Verhalten sich äußernde Seelenlosigkeit auf Huldbrand anfangs anziehend wirkt, verliert er nach der Hochzeit das Interesse und projiziert im selben Maße, in dem seine Gefühle für Bertalda zunehmen, Dämonisches in Undine, die zu dem Zeitpunkt das Musterbeispiel an weiblicher Tugend verkörpert. Sein Bild ist komplementär nicht zu dem jeweils tatsächlichen Zustand/Charakter der Meerjungfrau, sondern zu seinem sich in der Projektion manifestierenden Seelenleben.

Nicht nur Fouqué dient das voyeuristische Moment, das wir aus der Melusinensage kennen, der Figurenpsychologisierung und -charakterisierung. In den Texten des 19. Jahrhunderts kommen die männlichen Hauptfiguren bei einer Inspektion nicht gut weg: Von Goethes Märchen Die neue Melusine (1817), Adam Mickiewiczs Świtezianka (1822), Grillparzers Libretto Melusina (1823) bis hin zu Antonin Dvořaks Rusalka (1901, Libretto von Jaroslav Kvapil) wird der Typ des misstrauischen, unzuverlässigen, treuebrüchigen, wankelmütigen und leicht beeinflussbaren Mannes aufgegriffen und verstärkt. Es lässt sich deshalb geradezu behaupten, dass der Melusinen- und Undinenstoff gar keinen Weiblichkeitsmythos, keine „Ontologie des Weiblichen“ (Preußer 85), sondern einen Männlichkeitsentwurf fixiert.

An dieses Verfahren knüpft der Stechlin dort an, wo Leser und Leserin zu Beobachtenden zweiter Ordnung geraten. Bevor sie zum ersten Mal auftritt, geht Melusine eine sich im Namen verdichtende Fama voraus: Den einen erscheint sie zauberhaft weltgewandt und modern, den andern als Bedrohung traditioneller Familien- und Weiblichkeitsbilder. Es ist auch in Stechlin eine auffällige Strategie, die auftretenden Figuren anhand der Haltung Melusine gegenüber zu charakterisieren. In der Ablehnung lassen sie sich als hoffnungslose Kleingeister erkennen, ihre Neugierde markiert sie positiv, sei sie als Offenheit oder (erotische) Faszination verstanden.

In der Unterhaltung von Rex und Czako, zweier Freunde des jungen Woldemar von Stechlin, kommt die Scheidungsgeschichte der „charmanten Frau“ (108) zur Sprache, die aus Protest den Namen ihres Ehemanns abgelegt habe und sich nur noch bei ihrem Vornamen nennen ließe. Darauf reagiert Czako spontan: „Melusine? Hören Sie, Rex, das läßt aber tief blicken.“ (108) In welche Untiefen es blicken lässt, erfährt der Leser weder an dieser noch an irgendeiner anderen Stelle. Die Figuren ergehen sich in Andeutungen: „Wer Melusine heißt, sollte wissen, was Namen bedeuten“ (141), kommentiert Woldemar ohne weitere Erklärung abzugeben. Und die Gemeinte reagiert ebenso selbstverständlich: „Ich weiß es leider. Denn es gibt Leute, die sich vor ‚Melusine‘ fürchten.“ (141) Wie ein Beleg für diese Feststellung erscheint dann auch die Ablehnung, die Dubslavs Schwester, die alternde Domina Adelheid, der jungen Gräfin entgegenbringt: „Melusine aber ist kein Zufall, [...] diese Melusine ist eine richtige Melusine.“ (285) Ein Kommentar lässt keinen Zweifel an der Charakteristik: „Sie waren eben Antipoden: Stiftsdame und Weltdame, Wutz und Windsor, vor allem enge und weite Seele.“ (380)

In den Figuren des Romans löst der Name offenbar Assoziationen aus, die sie selbst kaum artikulieren können: „Versteht sich, Melusine ist mehr. Alles was aus dem Wasser kommt, ist mehr. Venus kam aus dem Wasser, ebenso Hero... Nein, nein, entschuldigen Sie, es war Leander.“ (214) Was genau „mehr“ hier bedeuten soll, bleibt rätselhaft und stellt deutlich das Unvermögen aus, das Gemeinte zu konkretisieren. Dass Czako die Venus sowie Hero und Leander als verwandte Beispiele benennt, verdeutlicht ein prekäres, transmedial von Literatur und Bild geprägtes Alltagswissen um die mythischen Narrative, das sich als ‚irgendwas mit Wasser‘ zwar flapsig, doch treffend beschreiben lässt. Damit führt der Text anschaulich vor, wie Mythen im Alltag präsent sind. Um diese Präsenz zu studieren, eignet sich der Stechlin besonders gut, weil Fontanes Charaktere denken und sagen, was zum assoziativen Bestand der Figur gehört. Darin nehmen auch Phantasmagorien des Weiblichen einen prominenten Platz ein. Der Roman arbeitet und spielt mit Vorurteilsstrukturen ohne sie selbst zu bedienen, was deutlich wird, wenn Melusine die Phantasmagorie als solche anspricht: „Eine Frau, die nicht rätselhaft ist, ist eigentlich gar keine, womit ich mir persönlich eine Art Todesurteil ausspreche. Denn ich bin alles, nur kein Rätsel.“ (229) Das ist ein starkes abgrenzendes Moment zu den Melusinen- und Undinennarrativen, die beide das Rätsel der Herkunft verbindet. Damit verweist Melusine das Geraune um ihren Namen in das Reich des Vorurteils. Wie das einige Jahrzehnte später entstandene Bild L’invention collective von René Magritte, auf dem die Meerjungfrau verkehrt mit Fischkopf und menschlichem Unterleib am Strand angespült liegt, stellt Fontane das Potenzial aus, Realien mit Hilfe kollektiv geteilter und perpetuierter Imaginationen zu schaffen, die assoziativ auf ein transmediales Universum zugreifen.

Indem Fontane die Figuren aus einem abstrakten Vorstellungs- und Vorurteilsreservoir schöpfen lässt, aktiviert er ein kritisches Moment, das dem Mythos eingeschrieben ist. Er macht literarisch das, was Roland Barthes mit seiner Mythenanalyse macht: Den Mythos als solchen zu dekonstruieren, indem er seine stereotypen- und ideologemebildende Kraft offenlegt. Gerade hierfür eignet sich eine realistische Melusine besonders, weil sie auf der diegetischen Ebene nicht anders ist. Anders wird sie, weil ihre Umgebung Andersheit in sie hineinprojiziert.

Fontanes Darstellungsstrategie, die er in Böcklins Nähe stellt, ist an einem Ende der Interfiguralitätsskala verortbar. Am anderen lassen sich der Jugendstil und Neoklassizismus einordnen sowie als literarisches Beispiel Eufemia von Ballestrems Lady Melusine.

5 Allusion als Interfiguralitätsstrategie in Eufemia von Ballestrems Lady Melusine

Um sich die kulturelle Reichweite und Wirkungsweise transfiktionaler Figuren zu vergegenwärtigen, die dekontextualisiert, ohne Quellen- oder auch nur Kontexthinweis adaptiert werden, bietet das Marketing ein passendes Feld. Von Märchenfiguren wie Rotkäppchen oder Schneewittchen bis hin zu William Shakespeares Charakteren treffen wir Figuren literarischen Ursprungs in der Alltagskultur an – auch als Markennamen. Dazu gehören neben den global wirksamen wie dem Franchise-Unternehmen Starbucks und eher nur national bekannten Marken wie Pan Tadeusz (Vodka), Zadig&Voltaire (Mode), Valmont (Kosmetik), auch jene, die sich in bestimmten Branchen durchgesetzt haben wie Don Giovanni (Pizzerien) und Gatsby (Cocktail-Bars) oder die von den unkalkulierbaren Wegen des Kulturtransfers zeugen (Lotte-Schokolade in Japan, vgl. Richter 151). Sie alle adressieren die Konsumenten doppelt: Bei Literaturkennerinnen evozieren sie Assoziationen mit den vertrauten Werken, bei anderen vielleicht eine elitäre Aura des Hochkulturellen oder auch nur den Eindruck des vage Bekannten. Diese Wirkungsoffenheit teilt die Alltagskultur mit der Literatur dort, wo ein intertextuelles oder intermediales Verweisnetz fehlt, wie es der Stechlin bereithält.

Als ein Beispiel hierfür kann die Lady Melusine genannte Figur im gleichnamigen Roman der einst erfolgreichen, heute allerdings weitestgehend vergessenen Unterhaltungsautorin Eufemia, Gräfin von Adlersfeld-Ballestrem aus dem Jahr 1878 gelten. Dass der Text innerhalb der zeitgenössischen Unterhaltungsliteratur verortbar ist, zeigen die Vermischung von Liebesgeschichte mit einem Kriminalplot und Schauerelementen sowie die wendungsreiche und verschachtelte Handlung. Melusine Holwell ist selbstredend „von betörender Schönheit“ (4) und Tochter eines verarmten schottischen Adeligen. Nach dem Tod ihres Vaters wird sie zwanzigjährig als Mündel dem deutlich älteren englischen Adeligen Sir Ralph Hereford überlassen, der sie als Zeichen seines guten Willens heiratet. Im verarmten, von protestantischem Ethos und Traditionalismus gleichermaßen geprägten Adelshaus, fühlt sie sich bald gelangweilt und unter ihren Möglichkeiten. Zudem realisiert sie, dass in einiger Nachbarschaft ihre alte Liebe Graf von Hastings lebt, der nicht nur jung und gutaussehend, sondern auch begütert und gesellig ist. Auf einer von ihm veranstalteten Jagd nutzt Melusine die Chance, um sich aus ihrem als Gefängnis wahrgenommenen Leben zu befreien, indem sie ihren Ehemann erschießt und dies als einen Jagdunfall hinstellt. Anschließend verfolgt sie ihr Ziel, Lady Hastings zu werden, umso kompromissloser und zunächst erfolgreich. Der Erfolg hat jedoch nur kurzen Bestand, denn sowohl der Mord, als auch eine Reihe weiterer Schandtaten kommen schließlich ans Tageslicht. Um diese hier aufs Wesentliche zusammengeschmolzene, sich in der Tradition der Gothic Novel vornehmlich in unheimlichen Gemäuern abspielende Kernhandlung wird ein Geflecht von Nebengeschichten aufgebaut, die unter anderem mit Motiven der wiedergefundenen Schwester, des verschwenderischen und kriminellen Verwandten, des loyalen Bediensteten, eines fingierten Todes, mit Geistererscheinungen und verlorenen Briefen reich bestückt sind.

Diese kursorische Zusammenfassung verdeutlicht bereits, dass die Figurencharakteristik kaum mit den bekannten Wasserfrauen in Übereinstimmung gebracht werden kann. Lediglich das Verständnis der Ehe als Mittel, ein konkretes Ziel zu erreichen, lässt sich als Referenz an den Melusinen- und Undinenmythos verstehen. Dieser Bezug bleibt jedoch vage, denn im Unterschied zu den Wasserfrauen-Narrativen, ist es nicht der unzuverlässige Mann, der die Handlung der Tragödie entgegenführt, sondern die durchtriebene Frau. Melusine wird als eine femme fatale stilisiert, deren Ehrgeiz und Skrupellosigkeit an Shakespeares weibliches Personal erinnern: Von den Schwestern Goneril und Regan aus King Lear bis hin zu Lady Macbeth. Diese Assoziation überlässt Ballestrem nicht dem Zufall, sondern befördert sie, indem sie einigen Kapiteln Shakespeare-Zitate voranstellt und – besonders offensichtlich – indem sie Melusine als „Lady“ adelt.

Das Verfahren, zwei Figuren bzw. Figurentypen zu einer zu verschmelzen, ist unter der Bezeichnung „Mash-up“ typisch für die partizipative Literaturproduktion der gegenwärtigen Onlinekultur geworden. In der FanFiction steht dieser Begriff für die Vermischung von häufig historischen oder kanonischen Figuren mit populärkulturellen Typen, was Titel wie Sissi, die Vampirjägerin oder Werther, der Werwolf anzeigen (Wagner und Egger). Man kann Lady Melusine als ein solches Mash-up aus Wasserfrau und Lady Macbeth sehen, auch wenn ihre Ausgestaltung wesentliche Unterschiede zur FanFiction-Ästhetik aufweist (Pugh 25). Gerade die sie kennzeichnende Figurenkenntnis wird bei Ballestrem weder voraussetzt noch inszeniert. Sie externalisiert die Wirkungsweise in vergleichbarer Art, wie es die oben genannten Markennamen tun.

Die Literaturkennerin mag es an Shakespeare erinnern, dass Melusine von Schuldgefühlen geplagt wird, die sich übernatürlich manifestieren. Die Referenz ist jedoch unmarkiert, sodass die Verbindung zu Banquos Geist, der Macbeth seine Schuld vorhält, kontingent ist – insbesondere auch, weil Ballestrem das Narrativ einer Läuterungsgeschichte mit Happy End wählt. Nachdem sie enttarnt wird, verwandelt sich die machiavellistische Schönheit in eine hingebungsvolle Sanitäterin, verstirbt bei karitativer Arbeit und wird nach ihrem Tod von denjenigen geehrt, die sie zuvor verletzt und betrogen hat. Darin könnte man die Verwandlung von Fouqués Undine vom seelenlosen Naturwesen zur brav-bürgerlichen Frau erkennen, die jedoch fragmentarisch als Assoziationsfetzen präsentiert wird. Gleiches gilt für die einzige relevante Anspielung auf das Element Wasser:

Tief im Parkdrinnen lag ein stiller Weiher dahin eilte sie. Vorwärts gebeugt blickte sie in das schwarze Wasser, lange, lange. Dann breitete sie die Arme aus als wolle sie hinein in die tückische Fluth, immer tiefer und tiefer neigte sie sich, – dann lachte sie hell auf – ein dämonisches Lachen! Hochaufgerichtet fuhr sie zurück, den Kopf hoch erhoben, die blonden Locken tief im Nacken und durch den Wald klang schauerlich das Echo und wieder lachte sie, furchtbar, hell, markerschütternd, entsetzlich! (77)

Die für Wasserfrauennarrative kennzeichnende Verbindung zum Element ist nicht nur singulär, sie wirkt auch nicht produktiv auf die Figur zurück. Lady Melusine verbindet mit Wasser bis auf diese Szene nichts. Wer die Kulturgeschichte kennt, erlebt eine Anspielung, die für das Textverständnis ohne weitere Folgen bleibt. In diesem Text funktioniert der Titel wie ein Marken-Logo, das tiefere Assoziationen erlaubt oder auch nicht – ganz so wie im Fall von Starbucks: Dass die Kaffeehauskette mit Meerjungfrau-Bild, das in der älteren Logo-Variante noch deutlich erkennbar ist, und dem Namen des Steuermanns aus Herman Melvilles Moby Dick einen Zusammenhang mit dem Meer herstellt, wird kaum jemanden zu einer Tiefenanalyse veranlassen (auch wenn sich beispielsweise ein Zusammenhang mit der Lage der ersten Filiale im Hafen von Seattle herstellen ließe). So weitgehend kontingent sich Meerjungfrau, Steuermann und Kaffee zueinander verhalten, verhält sich Lady Melusine zum Melusinenmythos. Das Mash-up der Figuren verweist ausschließlich auf den Typus der femme fatale, in dem Sinne könnte die Figur treffender La Dame Sans Merci, Salomé oder Lilith heißen. Melusine ist keine Stammesmutter, sondern eine moralisch deviante Fremde, die eine Läuterung erfährt. In der Abstraktion lassen sich durchaus Parallelen zum Undinennarrativ finden, aber eben auch zu vielen anderen.

Umso bemerkenswerter ist, dass sich in diesem fragmentierten, selbstbezüglichen Universum aus Motiven und Plotstrukturen in der Figurenkonzeption der realistischen Lady Melusine eine Eigenschaft wiederfindet, die wir bereits aus dem Stechlin kennen. Wie Melusine Barby verkörpert Lady Melusine kulturelle Hybridität sowohl was ihre Nationalität als auch ihre soziale Position betrifft. Im Unterschied zu Fontane wird die Figur jedoch ausgedeutet. Ihre moralische Devianz wird an ihre Nichtzugehörigkeit zur englischen Adelsgesellschaft geknüpft. Als Schottin gilt sie als kulturell Fremde, was wiederholt mit Antonomasien wie „schottische Bergfee“ (bspw. 29, 48, 72, 154) zum Ausdruck gebracht wird. Als sie mit den Männern zur Jagd aufbrechen will, wird ihr unmittelbar gespiegelt, wie unpassend ihr Verhalten sei: „Wir sind hier aber nicht in Schottland [...], und obwohl es Engländerinnen mitunter auch tuen, so fällt es doch immerhin sehr auf.“ (57) Das „seltsame Vergnügen für eine Dame, die unschuldigen Tiere des Waldes zu tödten“ (56) stigmatisiert die Figur als zur Grausamkeit fähig, der Verweis auf die kulturelle Herkunft relativiert das. Grausam erscheint sie demnach nur im ‚neuen‘ kulturellen Kontext, im Herkunftszusammenhang wirkt das Rollenbild natürlich.

Ihr sozialer Aufstieg wird selbst gelungen als falsch dargestellt: „[S]ie dachte, wie gern sie wieder als Kind und junges Mädchen fröhlich sein wollte in der alten Hochlands-Abbey. Sie dachte das trotzdem sie reich, glücklich und geliebt war.“ (201) Der soziale Transformationswille, das Streben nach Luxus und einer nicht standesgemäßen Liebe werden verurteilt und manifestieren sich als individuelle moralische Devianz. Die Phantasmagorie bestätigt sich objektiv, weil zwischen den Vorstellungen und -urteilen der Mitwelt und dem Standpunkt des Textes keine Trennlinie eingezogen wird. Auch wenn sich die Erzählstimme mit belehrenden Einschüben gegen die als weiblich markierte Gewohnheit zu Tratsch, Neid und Vorurteil wendet,[9] so kolportiert die unfokalisierte Perspektive fortwährend das Bild als „dämonisch schöner Teufel“ (78). Das Streben nach gesellschaftlichem Aufstieg und Luxus macht die Figur verdächtig. Es ist die Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität, die eine Kette an fatalen Verstrickungen in Mord, Entführung und Betrügereien auslöst. Die Botschaft ist, dass Migranten und soziale Aufsteiger in eine hinsichtlich moralischer Grundüberzeugungen und Traditionen homogene Adelsgemeinschaft prinzipiell nicht integrierbar sind. Was Fontane diagnostisch und mythoskritisch nutzt, objektiviert Ballestrems Roman. Er übernimmt damit die Position, die von der Domina Adelheid aus dem Stechlin bekannt ist, in allem, das sich den bekannten Kategorien entzieht, moralische Devianz zu vermuten.

6 Fazit

Um dem Rezeptionsproblem von transfiktionalen Figuren wie den realistischen Melusinen zu begegnen, ist der Begriff „Interfiguralität“ hilfreich, weil er objektiv unentschieden lässt, ob die Figur als Mythos zitiert, als solcher reflektiert wird oder ob der Name bloß einen kulturellen Assoziationsschatz evozieren soll, ohne die mythische Biografie der Figur zu entfalten.

Hinsichtlich ihrer Plot- und Figurengestaltung sowie des Zielpublikums sind der Stechlin und Lady Melusine denkbar unterschiedlich. Dass beide die körperlich markierte Hybridität der wunderbaren Fischfrau auf eine soziokulturelle Ebene übertragen, zeugt davon, dass sich der angereicherte Assoziationsbestand stabilisiert. Geht man von einem weiten Mythosbegriff und Verständnis dessen aus, was als Arbeit daran zu bezeichnen ist, können beide Texte in diesem Sinne insofern ausgelegt werden, als sie die Figur neu profilieren. Bei allen Unterschieden zeigen sich Lady Melusine und der Stechlin auch darin solidarisch, dass das intellektuelle Erlebnis größer ist, wenn man den ausgestreuten intertextuellen und intermedialen Brotkrumen folgt. Ballestrem vollzieht allerdings nicht den Schritt, das iterativ aufgerufene Repräsentationenuniversum reflexiv auf den Text rückwirken zu lassen. Vor dieser Folie wird Fontanes Strategie als eine mythosreflexive erkennbar, was der intermediale Verweis in Richtung der bildenden Künste bekräftigt.

Denn auch in diesen lässt sich die Spannbreite vom kritischen bis hin zum allusorischen Umgang beobachten. Legt der Jugendstil den Mythos romantischer Prägung fest, indem er ihn nutzt, um Weiblichkeit zu exotisieren, erotisieren und dämonisieren, so reflektiert Böcklin genau diese Tendenz. Der Roman von Eufemia von Ballestrem steht mit seiner Interfiguralitätsstrategie sowohl dem Jugendstil als auch der heutigen Alltagskultur nahe, wenn die Melusine genannte Figur als dämonische Frau profiliert wird. Auch das legt den Mythos fest und ist dabei genauso vage, wie ein Gericht, das aus einem in Tomatensoße schwimmenden und überbackenem Blumenkohl besteht, ‚schöne Melusine‘ zu nennen: Beides ist nur nachvollziehbar, wenn wir das Narrativ auf die Assoziation ‚irgendetwas in Wasser (bzw. Sauce)‘ oder ‚irgendetwas mit dämonischer Frau‘ reduzieren. Um der sich aufdrängenden Vermutung zuvorzukommen, hier sei die Grenze von Hoch- und Breitenkultur entscheidend: Gleiches gilt auch für das eingangs gebrachte Zitat von Bruno Schulz, weshalb die Interfiguralitätsstrategie allein keine Auskunft über die Qualität oder die Zielgruppe eines Textes gibt.

Im Unterschied zu den Alltagsrepräsentationen liefert Literatur jedoch einen Kontext. Dass die Figur also trotz maximaler Dekontextualisierung nicht beliebig wird und trotz Entmythisierung ‚Melusine‘ nicht zum Signalwort für alles Andere und Dämonische mutiert, hat mit der Festlegung auf die Funktion zu tun, kulturelle Hybridität zu repräsentieren. Dafür aber muss sie aus der Dynamik der Metamorphose, die konstitutiv für das Undine-Melusine-Narrativ ist, in die Statik des Dazwischen übersetzt werden. Deshalb braucht es hierfür nicht das mythische Narrativ – eine Vorstellung einer Meerfrau oder Sirene reicht aus. Was Literatur aber mit der Alltagspräsenz teilt, ist die Unklarheit darüber, ob die jeweils formulierte Rezeptionsaufforderung aufgeht. Das gilt selbst für den Stechlin, wo dem impliziten Leser, der komplementär zum intertextuellen und intermedialen Verweisnetz zu denken ist, zusätzlich zur Namensnennung so auffällige Brotkrumen gestreut werden, dass er den kulturellen Palimpsestcharakter der Figur gar nicht nichterkennen kann. Die Frage, inwieweit der reale Leser diese Verweise entschlüsselt und auf das im Palimpsest sich eröffnende transfiktionale Universum der Melusinen und Undinen zugreift, lässt sich indes vom Text her nicht beantworten.

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Online erschienen: 2020-11-11
Erschienen im Druck: 2020-11-09

© 2020 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

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