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BY 4.0 license Open Access Published by De Gruyter November 11, 2020

Andrej Platonov: Frühe Schriften zur Proletarisierung 1919–1927. Übers. Maria Rajer. Hgg. Konstantin Kaminskij und Roman Widder. Wien: Turia+Kant, 2019. 244 S.

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From the journal arcadia

Rezensierte Publikation:

Andrej Platonov: Frühe Schriften zur Proletarisierung 1919–1927. Übers. Maria Rajer. Hgg. Konstantin Kaminskij und Roman Widder. Wien: Turia+Kant, 2019. 244 S.


Der Schriftsteller und Bewässerungsingenieur Andrej Platonov, geboren 1899 in Woronesch, gestorben 1951 in Moskau, war im deutschsprachigen Raum lange beinahe nur Slavisten ein Begriff. Von Stalin als „Schweinehund“ geschmäht, konnten viele seiner Werke in der UdSSR erst während der Perestroika erscheinen. Was es auf Russisch oder übersetzt in ausländische Buchhandlungen schaffte, erhielt nur punktuell Aufmerksamkeit. Die von Lola Debüser zwischen 1986 und 1993 bei Volk & Welt in Ost-Berlin herausgegebene Werkausgabe in deutscher Übersetzung ist vergriffen.

Spätestens seit Suhrkamp mit Gabriele Leupolds fulminanter Neuübersetzung von Die Baugrube (1930/2016) ein kleiner verlegerischer Coup gelang, ist in den deutschsprachigen Feuilletons indes laufend von Platonov die Rede und auch die (nach wie vor überwiegend slavistische) Platonov-Forschung bekam einen neuen Schub.[1] Leupolds Übersetzung des Romans über ein scheiterndes Bauprojekt zur Zeit der gewaltsamen Kollektivierung der Landwirtschaft machte Platonov mit gut achtzig Jahren Verspätung im deutschen Sprachraum auch für Leser ohne Russischkenntnisse (die Rezensentin gehört zu ihnen) als Jahrhundertautor erkennbar, der nicht nur aus politisch-historischen Gründen, sondern mindestens ebenso aus ästhetischen Gründen gelesen werden muss – richtiger: für seine politische Ästhetik. Der Roman beginnt wie folgt:

Am dreißigsten Jahrestag seines persönlichen Lebens gab man Woschtschew die Abrechnung von der kleinen Maschinenfabrik, wo er die Mittel für seine Existenz beschaffte. Im Entlassungsdokument schrieb man ihm, er werde von der Produktion entfernt infolge der wachsenden Kraftschwäche in ihm und seiner Nachdenklichkeit im allgemeinen Tempo der Arbeit.

Woschtschew nahm in der Wohnung die Sachen in einen Sack und ging nach draußen, um an der Luft besser seine Zukunft zu verstehen.[2]

„Der Staatssprache wird das Kontrollmonopol verweigert“, schreibt der Lyriker Eugene Ostashevsky über Platonovs Literatur.[3] Ideologie, Bürokratie und Erfahrungswelt vermischen sich in Platonovs Sprache auf elektrisierende Weise. Joseph Brodsky befand, die Unterdrückung Platonovs in der Sowjetunion habe nicht nur die russische Literatur, sondern auch „die Entwicklung der nationalen Psyche“ für 50 Jahre gehemmt.[4] Was damit zur Wirkung Platonovs gesagt ist, hat nichts an Aktualität verloren.

Ausreden, ihn nicht zu lesen, gibt es nun auch keine mehr. Suhrkamp hält inzwischen in bibliophilen Ausgaben auch noch den Roman Tschewengur (1927–1929/2018) und das Erzählfragment Die glückliche Moskwa (1935/2019) im Programm. Dafür wurden die Übersetzungen von Renate Reschke und Lola Debüser aus der alten Werkausgabe überarbeitet. Die biografische Reihe des Verlags ergänzt ein von Hans Günther verfasster Band zu Platonov.[5] Nun ziehen kleinere Verlage nach. Bei Quintus in Berlin erschien 2019 der Roman Dshan (1935) in neuer Übersetzung von Michael Leetz, begleitet durch frühe journalistische Texte zur Umweltthematik, um die der Roman kreist; Fridays for Future organisierte bereits eine Veranstaltung zum Buch.

Der hier besprochene Band Frühe Schriften zur Proletarisierung 1919–1927, herausgegeben von Konstantin Kaminskij und Roman Widder bei Turia+Kant in Wien, erweitert den Horizont, innerhalb dessen auch die frühe Publizistik Platonovs gerade wiederentdeckt wird, von der Umweltthematik auf die Frage nach der Aktualität des sozialistischen Denkens. Der Band enthält 35 von Platonov verfasste politische Zeitungsartikel und Kurzessays. Der Anhang kommentiert Entstehungskontexte, Aspekte der Wortwahl im russischen Original, stellt Zusammenhänge zu tagespolitischen Diskursen und Zusammenhängen her. Ein prägnantes Nachwort öffnet die Perspektive auch auf gegenwärtige Fragestellungen. Ein Großteil der Texte wurden von Maria Rajer für den Band erstmals ins Deutsche übersetzt.

Andrej Platonov wuchs in proletarischen und provinziellen Verhältnissen als ältestes von zehn Kindern auf, der Vater Eisenbahnschlosser, die Mutter Hausfrau. Er arbeitete bereits als Jugendlicher. Dank einer guten Schulbildung und der von ihm mit Begeisterung erlebten Oktoberrevolution konnte er ab 1919 Elektrotechnik studieren, ab 1922 arbeitete er in leitender Funktion als sogenannter Meliorator, als Bewässerungsingenieur. In diesen Jahren entstehen Platonovs erste Texte – neben Lyrik und Erzählungen eine Vielzahl journalistischer Arbeiten und kurzer politischer Essays. Zumindest für diese Zeit gilt, dass Platonov sich nicht als Schriftsteller mit Brotberuf sieht, sondern ihm beide Beschäftigungen mindestens gleichermaßen bedeutsam sind. Vielfach überwiegt in den 1920er Jahren das wissenschaftliche und technische Interesse. Im Rückblick formulierte Platonov 1931: „In der Epoche des Aufbaus des Sozialismus darf man kein ‚reiner‘ Schriftsteller sein. Man muss eine polytechnische Bildung erwerben und sich in das Gewühl der Republik werfen. Für die Kunst findet sich dann Zeit genug in den arbeitsfreien Stunden.“[6] Zumindest vom Journalismus hatte sich Platonov um 1924 sogar einmal ganz abwenden wollen: „Das Schreiben von Artikeln ist eine bürgerliche Erfindung. Daher höre ich damit auf.“[7]

Dem Entschluss blieb Platonov nicht ganz treu, dennoch fällt ein Großteil seiner journalistischen Texte in die frühen 1920er Jahre. Verfasst wurden sie überwiegend für die Zeitungen Voronezhskaia kommuna (‚Woronescher Kommune‘) und Krasnaia derevnia (‚Rote Landschaft‘); einige Texte konnten erst nach 1990 erscheinen. Der Band von Kaminskij und Widder versammelt eine Auswahl dieser frühen Publizistik. Die Themen der Texte im Buch reichen von der Verwandlung in den neuen Menschen, über proletarische Dichtung und Journalismus bis zu Fragen der Elektrifizierung, der Bewässerung und des Klimas. Die Herausgeber haben die Artikel entsprechend in drei Abschnitte sortiert: „Das Bewusstsein des Proletariats“, „Die Kultur des Proletariats“ und „Die Umwelt des Proletariats“. Innerhalb der Abschnitte sind die Texte chronologisch angeordnet. Mehr als zwei Drittel der Texte sind 1920 bis 1922 entstanden. Über den im Buchtitel angegebenen Zeithorizont hinaus ist auch aus den Jahren 1928, 1929 und 1934 jeweils ein Text enthalten.

Die Beiträge zum „Bewusstsein des Proletariats“ vermessen den Stand der ‚Proletarisierung‘ in Russland. Es geht um die Notwendigkeit eines Klassenbewusstseins, um einen allgemeinen, dem historischen Materialismus statt Immanuel Kant und Lew Tolstoi verbundenen Freiheitsbegriff, der – endlich gefunden – bloß noch gelebt werden muss, um die Ablösung der christlichen Religion durch eine Religion des Kommunismus im Menschen, um die Umwandlung des kapitalistischen in ein kommunistisches Produktionssystem, um das Wesen der Arbeit als Widerstand gegen die Natur, um Dialektik als Methode des Denkens und Handelns, um eine politische Körperlehre des Kommunismus.

Der Frage, warum man sich mit dieser „Metaphysik des Proletariats“[8] über ein rein historisches Interesse hinaus heute beschäftigen sollte, arbeitet die Prägnanz von Platonovs Formulierungen entgegen, die – auch wenn besonders die frühen Texte ganz anders klingen als seine großen Erzählungen – einen Sog entwickelt. Wie jede Faszination ist es eine ambivalente. Über „Anarchisten und Kommunisten“ schreibt Platonov 1920: „Der Anarchismus entspringt aus der allmählichen Verrohung und Bestialität des Einzelnen in der bürgerlichen Gesellschaft, in der jeder ein ‚freier‘ Mensch sein will – ein Bourgeois. Doch so tötet man das Kapital nicht, sondern streichelt es nur.“ (29) Oder:

Der Kommunismus ist die Weiterentwicklung des Kapitalismus, die Vollendung seiner Form, denn Eigentümer ist nunmehr die ganze Menschheit. Der Anarchismus ist hingegen eine Bestätigung des Kapitals in seinen alten Formen, ein Auf-der-Stelle-Treten, eine schlichte Ausweitung des Kapitals. Es ist der Wunsch des Einzelnen, alle anderen zu besiegen und ein ‚freier‘ Mensch zu werden, sprich der Wunsch, einen Bourgeois aus sich zu machen, oder gar einen Gott. (30)

Platonov ist kaum über 20 als er diese Texte schreibt; unschuldig sind sie nicht. Der umsichtige Herausgeberkommentar stellt klar: „Platonovs Gegnerschaft zum Anarchismus entspricht im Kontext der Tagespolitik ziemlich genau der bolschewistischen Position. Der Text fällt zeitlich in die Phase der Verfolgung und Liquidierung des russischen Anarchismus durch die Bolschewiki und macht sich insofern mit seiner Gewalt gemein.“ (187)

Gerade ihr Status als, wie es heute wohl heißt, ‚problematische Texte‘ macht sie zu wichtigen Dokumenten für eine Gegenwart, in der das Wagnis utopischen Denkens sich kaum noch Wege bahnt. Es handelt sich um eindrucksvolle Zeugnisse einer grundlegenden Politisierung des Lebens, wie sie heute nicht mehr vorkommen, und ebenso sehr um eindrucksvolle Zeugnisse historischer Irrtümer. Für den Bau der kommunistischen Gesellschaft, so heißt es an einer Stelle, brauche es „zwei Dinge: Erstens Zorn, also ein geschärftes Bewusstsein und stürmische Arbeit, die sich gegen die Welt richten; und zweitens Herz, also Empathie und eine rhythmische, maschinelle Taktung im Umgang mit anderen Menschen“ (145).

Die Herausgeber verzichten glücklicherweise darauf, Heikles und Sperriges zu glätten oder zu entschuldigen – mit Ausnahme misogyner Tendenzen in einigen Texten Platonovs, die als „komplexe Suchbewegung“ (230) relativiert werden. Platonov, der später mit Die glückliche Moskwa (1935) eine wunderbar eigensinnige Frauenfigur entworfen hat, die der Literaturgeschichte sonst fehlen würde, wäre nicht der einzige Mann, der ein starres Frauenbild aus der jungen Erwachsenenzeit später korrigiert.

Die Globalisierung hat die Zusammenhänge, innerhalb derer politisches Handeln stattfindet, zweifellos verkompliziert; deutlich zeigt sich im Rückblick von Platonov her, dass der Kapitalismus keine Antworten auf globale Ungleichheiten liefern konnte, die auch vor 100 Jahren schon bestanden, wenn auch mit anderer Tendenz. In „Der Mensch der Zukunft“, einem Text, den Platonov Ende 1927 vergeblich zu publizieren versuchte (er erschien erstmals 2005), schreibt er:

Die Erdkugel ist ein ganzheitlicher, gut funktionierender Körper. Er ist nicht auf die Unterteilung in einzelne Völker ausgerichtet, sondern auf ein allgemeinmenschliches Volk. Doch derzeit versucht jeder Staat so zu leben, als sei er allein auf der Welt und als seien seine politischen Grenzen deckungsgleich mit dem Ende der Welt. Deswegen wissen die Menschen an einem Ort nicht, was sie mit ihrem Anthrazit machen sollen, während man woanders mit Kuhfladen heizt. Deswegen müssen die Menschen auch so hart arbeiten: Sie arbeiten nicht dort, wo es günstig wäre, und sie leben dort, wohin der Zufall sie verschlagen hat. Würde man heute einen einheitlichen globalen Plan des Lebens für den gesamten Erdenkreis verwirklichen, müssten die Menschen nur vier Stunden täglich arbeiten, ohne sich übermäßig anzustrengen. (42)

Formulierungen wie die von einem „einheitlichen globalen Plan des Lebens“ lesen sich nach Erfahrungen mit den scheinkommunistischen Regimes des 20. Jahrhunderts unbehaglich. Dass die Rohstoffe der Erde bei gerechter Verteilung für alle reichen würden, bleibt richtig. Dass globale sozio-ökonomische Veränderungen nicht ohne eine (Selbst-)Verwandlung des Menschen zu bewerkstelligen sind, und dass (ein Marx’scher) Sozialismus und der Kapitalismus auf radikal unterschiedliche Weise auf die Veränderbarkeit des Menschen einwirken, ist ebenso von schmerzhafter Aktualität. Bei Platonov klingt das so:

Schuf der Kapitalismus Bedingungen, unter denen sich der Proletarier in einen Idioten verwandelte, so hat der Sozialismus diese Bedingungen umgekehrt und den Proletarier in einen begabten Menschen verwandelt. Das sind physiologische, organische Folgen von verschiedenen sozialen Ordnungen. Das ist ganz klar. (46)

Die Texte im Abschnitt „Die Kultur des Proletariats“ lesen sich kaum mit leichterem Herzen. Hier deuten sich indes zahllose Stränge einer noch immer nahezu vollständig ungeschriebenen materialistischen Ästhetik an, von einer Erfahrungstheorie der Kunst (54) über einen an Walter Benjamins Rundfunktexte erinnernden Artikel über „Die Bauernzeitung im Radio“ (107) bis zur Möglichkeit einer dichterischen Verwandlung der Welt: „Proletarische Dichtung“, so ist in einem gleichnamigen Text von 1921 zu lesen, „ist Verwandlung der Materie, ein Ringen mit der Wirklichkeit, ein Kampf mit dem Kosmos um dessen Veränderung entsprechend den inneren Bedürfnissen des Menschen.“ (65)

Platonovs ‚Blaue Blume‘ ist die Technik: „Die Erfindung von Maschinen, die Erschaffung neuer, eiserner Arbeitskonstruktionen – das ist proletarische Dichtung.“ (66) In seinen Artikeln zeigt Platonov immer wieder eindrucksvoll die Bedeutung der Maschinisierung für die Erleichterung körperlicher Arbeit. Dann wieder reicht die Maschinengläubigkeit bis zur Prophezeiung eines Endes der Kunst. In „Die Revolution des Geistes“, ebenfalls 1921 erschienen, heißt es:

Elektrifiziert Russland zunächst, dann bekommt ihr eine eiserne Arbeiterpoesie, die vor elektrischer, unbändiger Energie strotzt. Baut Werke aus Stahl, Beton und Glas in die Wolken, füllt sie mit Maschinen, die vernünftiger sind als der Mensch. Soll die Erde doch brechen unter der Last der arbeitenden und erstmals glücklichen Menschheit. Dann werden wir keine Musik mehr brauchen, der Lärm und der Rhythmus der pulsierenden, heiß laufenden Maschinen erregen und inspirieren uns mehr als tausend Musikgenies. Die Flammen der Brennanlagen und die schwarzen Körper der Motorkessel schaffen mehr Farben als das Geschmiere auf einer Leinwand. In einer flüchtigen Explosion von Dynamit, in einer elektrostatischen Entladung ist mehr Leben, mehr Gefühl, sind mehr begeisternde, unbegreifliche Nuancen und Linien als in den uralten Galerien, wo kraftlose, verstaubte Farben veröden, die kein Mensch mehr braucht.

Unsere Bühne ist das Universum und wir sind Schauspieler, die des Spiels und der Freude niemals satt werden. (36)

Weniger Technopathos besitzt ein reformatorischer Entwurf Platonovs zur Literatur. „Literaturfabrik (Von der radikalen Verbesserung der Methoden des literarischen Schaffens)“, einer der längsten und schönsten Texte im Buch, 1926 entstanden, aber erst 1991 veröffentlicht, macht einen detaillierten Vorschlag für einen kollektiv organisierten „Literaturbetrieb[]“ (102). Platonov liefert dabei zunächst Einblick in seine eigene dichterische Arbeitsweise, vom Aufspüren, Sammeln und Ordnen von Material bis zum Fluchtpunkt der Arbeit in der Montage. Darin bleibe die Spur individueller Autorschaft wahrnehmbar. Die Montage verweise darauf, „dass hier für einige Zeit eine lebendige, brennend interessierte und leidenschaftliche Hand im Spiel war, eine persönliche Passion wirkte und Wille und Ziel eines lebendigen Menschen da sind“ (99). Für den Literaturbetrieb überträgt Platonov sein Verfahren ins Kollektive: Eine Redaktion, die aus ‚Monteuren‘ und ungefähr wie Lektoren arbeitenden ‚Kritikern‘ besteht, soll von „Literarische[n] Korrespondenten“ (102) in einer Art Außendienst mit Material beliefert werden. Es geht, wie die Schlusspassage verrät, um eine Kollektivierung der literarischen Ressourcen und Verfahren:

Vielleicht erreichen wir dann eine radikale Reform der Literatur (ihres Inhalts, ihres Stils und ihrer Qualität) und lösen auf einfache Weise das Problem der Kollektivierung dieses ‚geheimnisumwobenen‘ und sensiblen Bereichs, liquidieren das Archaische in den Verfahren und Gebräuchen der literarischen Arbeit und ziehen hinsichtlich der Vernünftigkeit der Produktion zumindest mit einer schlechten Fabrik für landwirtschaftliche Maschinen und Werkzeuge gleich. (106)

Der Essay, der in der Übersetzung von Gabriele Leupold aufgenommen wurde, kommt im Ton immer wieder einer zarten Ironie nahe. Eine parodistische Absicht, die dem Text teilweise unterstellt worden ist, schließen die Herausgeber aber aus: Platonov entwerfe vielmehr tatsächlich eine „Vision kollektiver, arbeitsteiliger Produktion von Literatur“, die sich an zeitgenössische Projekte im sowjetischen Film anlehne (199). Der Text ist an vielen Stellen so heiter reformatorisch und zeugt von einer so profunden Poetologie, dass man sich wünscht, es wäre doch einmal versucht worden.

Dafür, dass es Platonov ernst war mit der Kollektivierung der Literatur spricht auch der früheste Text im Buch „An die angehenden proletarischen Dichter und Schriftsteller“, zuerst 1919 in der Eisenbahnerzeitschrift Zheleznyj put (‚Eiserner Weg‘) erschienen. Darin heißt es gegen Ende:

Schreiten wir zur Tat, Brüder und Genossen! Ich fordere die angehenden proletarischen Schriftsteller und Dichter vom Woronescher Eisenbahnproletariat auf, in der Redaktion des Eisernen Weges ein Studio des kollektiven schöpferisch-literarischen Schaffens zu gründen. Dafür schlage ich den Genossen angehenden Schriftstellern vor, dieses Problem auf den Seiten des Eisernen Weges zu diskutieren und einen Zeitpunkt zu bestimmen, wann wir uns versammeln und alle Details besprechen.

Wir beginnen eine große Sache und bislang sind unsere Kräfte schwach. Aber wir sind jung, unsere Seelen sind noch nicht von der Rostschicht eines kleinlichen Spießbürgertums oder einer bequemen Gleichgültigkeit überzogen. In jeder noch so geknechteten, nichtigen Seele liegen unendliche Entwicklungsmöglichkeiten. (55)

„Die genaue Genese seiner faszinierenden literarischen Abgründigkeit erschließt sich erst im Blick auf Platonovs frühe Schriften zur Proletarisierung“, heißt es im Nachwort von Widder und Kaminskij (235). Dadurch, dass die frühen journalistischen Texte Platonovs fast vollkommen frei von der Mehrbödigkeit scheinen, die seine großen literarischen Texte auszeichnen, wird deutlich, dass Platonov seine einzigartige Mehrsprachigkeit daraus entwickelt haben muss, dass er viele der von ihm zusammenmontierten Sprachen selbst schon einmal in ernsthafter Absicht verwendet hatte. Es handelt sich bei seinen Sprachen im starken Sinne um Erfahrungssprachen, die Teil an einem kollektiven Gedächtnis haben.

Platonovs Texte zum Energiewesen, zu Fragen der Landwirtschaft, der Umwelt und des Klimas haben in jüngerer Zeit schon etwas Aufmerksamkeit bekommen.[9] Ihnen gilt der dritte Teil des Buchs, „Die Umwelt des Proletariats“. Die Elektrifizierung, der sich eine ganze Reihe von Texten widmet, ist eines der wichtigsten Themen für Platonov; (unter anderem) im Zeichen des staatlichen Elektrifizierungsplans setzt er dessen Bedeutung mit der Oktoberrevolution gleich (120). Auch in seiner Dichtung schlägt sich das Interesse nieder. Die Verbindung von Wissenschaft, Ingenieurswesen, kommunistischer Kommunikations- und Gemeinschaftstheorie und Dichtung im Moment der Elektrifizierung bei Platonov hat Konstantin Kaminskij in seiner Dissertation umfassend untersucht und dabei eine „Elektropoetologie“ offengelegt.[10] Kommentare und Nachwort geben eine Ahnung von der politisch-poetischen Bedeutsamkeit dieses Themas für Platonov. Kaminskijs Elektro-Expertise schlägt sich hier ebenso produktiv nieder wie die des Mitherausgebers Roman Widder zu Formen und Verfahren von Klassenbewusstsein und Revolution in der Literatur.[11]

Einen zweiten wichtigen Strang bilden Texte zur „Hydrofizierung“ – eine Wortschöpfung Platonovs für die Entwicklung eines umfassenden Bewässerungssystems – als Strategie gegen den immer bedrohlicher werdenden Hunger. 1921 schreibt Platonov zur Wirkung der Methode in „Die kommunistische Revolution der Bauern“:

Eine Konsequenz wird sein, dass sich die individualistische, raubtierhafte Bauernseele in eine kommunistische Seele verwandelt und die ganze Welt ihr Acker wird.

Aus der exakten Analyse der Arbeitsverhältnisse nach einer Hydrofizierung der Landwirtschaft ziehen wir unsere Erkenntnis, dass die Umerziehung der Bauern durch Hydrofizierung möglich ist. Man kann aus ihnen eine geschlossene Armee von Kommunisten, einen einzigen Organismus machen und den jetzigen Staubhügel vernichten, der nur durch Zufall mechanisch verbunden ist und beim geringsten Windstoß auseinanderfliegt. (141)

Besonders aktuell erscheinen Platonovs Überlegungen zu einer nachhaltigen Kultivierung des Bodens, die an die früheren Thesen zur „Hydrofizierung“ anschließen, aber einen nüchterneren Ton anschlagen. Der Text „Der Kampf gegen die Wüste“ von 1924 – Platonov arbeitet zu dem Zeitpunkt bereits einige Jahre in der Bewässerungstechnik – beginnt folgendermaßen:

Das wichtigste Kapital der Menschheit sind fruchtbare Böden. Dieses Kapital darf nicht geplündert und zerstört, sondern muss nachhaltig genutzt werden, damit der Gesamtbestand fruchtbarer Böden konstant gehalten wird. Letzteres ist nur mit perfekter Technik und Organisation der Landwirtschaft möglich und wahrscheinlich, kann aber selbst dann nur bis zu einem gewissen Grad erreicht werden.

Die modernen Verfahren zur Bodennutzung führen zweifellos zur Wüstenbildung. Das moderne System der Landwirtschaft ist im Wesentlichen Raubbau und Zerstörung der produktiven Kräfte der Erde und keine Wirtschaft im eigentlichen Sinne. (161)

Die thematische Ordnung der Beiträge im Band begünstigt den Vergleich zwischen früheren und späteren Texten Platonovs zum gleichen Thema. Die Unbehaglichkeit einiger Formulierungen besonders in den frühen Texten findet so ein Gegengewicht, ohne sich aufzulösen. Das Nachwort von Widder und Kaminskij antizipiert skeptische Lektüren: „Nachdem in hundert Jahren viel über die falschen Versprechen der Revolution geschrieben worden ist, über Massenmobilisierung, Suggestion und Propaganda, mag die martialische Metaphorik und die utopische Gesinnung dieser Sprache bei vielen nur noch ein herablassendes Lächeln über den naiven und fanatischen Tatendrang dieser messianischen Idiomatik hervorrufen.“ (223) Demgegenüber unterstreicht die kluge editorische Gestaltung des Bands nicht nur, dass Platonovs frühe Publizistik eindringliche historische Dokumente zu den monumentalen sozialen Experimenten der 1920er und 1930er Jahre in Russland liefert. In den Texten zeigen sich vielmehr die im wissenschaftlichen und journalistischen Diskurs der letzten 100 Jahre nicht nur kritisch aufgearbeiteten, sondern (vielleicht mehr noch) bis zur Entleerung verschlagworteten Begriffe des Kommunismus im Moment ihres Werdens, als fragmentarisch, brüchig, widersprüchlich – als Erfahrungsbegriffe.

Im Anschluss an Georg Lukács heben die Herausgeber die Bedeutung des Begriffs der ‚Proletarisierung‘ als Ausbildung von Klassenbewusstsein für Platonov hervor (227–228). In diesem emanzipatorischen Zug des Proletarisierungsbegriffs Platonovs sehen die Herausgeber sowohl historisch eine Abgrenzung vom sowjetischen Parteiprogramm (229) als auch systematisch eine Möglichkeit, die ‚Proletarisierung‘ für die Gegenwart zu retten (230), ohne dabei Gefahr zu laufen, zu einer abstrakten Beschwörungsformel der Linken zu werden (227). Für die Platonov-Forschung trägt der dezidierte Fokus des Bandes auf die Proletarisierung darüber hinaus dazu bei, der Möglichkeit entgegenzuarbeiten, dass die Umweltthematik losgelöst von Platonovs nie beiseitegelegtem kommunistischem Denken betrachtet werden kann oder dass eine Konzentration auf die einzigartige Ästhetik Platonovs zu einer Entpolitisierung der Rezeption führt.

Der abschließenden These der Herausgeber, Platonovs frühe Publizistik (und damit auch sein Begriff der ‚Proletarisierung‘) sei im Zeichen der Erkenntnis, „dass die ökologische und die soziale Revolution zwei Facetten derselben Herausforderung sind [...] endlich aktuell geworden“ (239–240), ist sicher zuzustimmen; mit Blick auf die „inneren Widersprüche und Sackgassen“ (224) der Texte greift sie dennoch zu kurz. Bei der Lektüre stellt sich vielmehr der Eindruck ein, dass die Texte Platonovs für die Gegenwart nur in ihrer radikalen Differenz wirksam werden können, in ihrem Bekenntnis zum gewagten, schutzlosen Denken, dass sie Widerhaken entwickeln, weil sie in ihrem unerschrockenen Reformgeist dem gegenwärtigen Common Sense so fern sind, nicht (bloß) weil sie zeigen, dass soziale Probleme und Umweltprobleme zusammengehören.

Dass die Herausgeber, die Übersetzerin Maria Rajer und der Verlag Turia+Kant sich diesen Texten umfassend und detailliert angenommen haben – Platonov selbst hatte 1921 vergeblich versucht, einige der Texte als ‚Gedanken eines Kommunisten‘ zu veröffentlichen –, ist ein großes Glück. Gerade in der Verbindung aus thematischer Bündelung und chronologischer Reihung, die bei der Lektüre zeitliche Sprünge vor und zurück erzeugt, werden die Dynamiken und Widersprüche der Texte erfahrbar, die bislang – wo überhaupt Übersetzungen vorlagen – nur verstreut und vereinzelt, den literarischen Großtexten angehängt, publiziert waren. Kommentar und Nachwort erhellen und differenzieren viele Zusammenhänge, ohne die Texte dabei festzusetzen. Diese relative Offenheit der Edition wird der wissenschaftlichen, vielleicht auch aktivistischen Arbeit mit ihr zuträglich sein.[12]

Ein Aspekt hätte einer ausführlicheren Kommentierung bedurft. Die Herausgeber schreiben im Nachwort davon, aus dem Bestand der frühen Publizistik Platonovs „eine eigene Auswahl“ (224) getroffen zu haben. Die Kriterien, nach denen dies geschah, werden nicht beschrieben. Aus wie vielen Texten wurde ausgewählt? Welche Kriterien wurden angesetzt? Worauf wurde verzichtet? Die Wahl des Zeitraums bis 1927, Schwellenjahr der Festigung des Stalinismus, geht darauf zurück – so deutet sich im Nachwort an –, dass Platonov in diesem Jahr seine Arbeit als Ingenieur aufgeben muss und sich verstärkt dem literarischen Schreiben zuwendet. Warum zusätzlich je ein Beitrag aus den Jahren 1928, 1929 und 1934 ausgewählt wurde, bleibt ebenso unerklärt, wie die Frage, wie viele journalistische Texte Platonov nach 1927 noch schrieb. Hilfreich sind die Datierung am Ende jedes Artikels im Textteil und kurze editorische und historische Bemerkungen im Kommentarteil. Wer keine detaillierte Kenntnis der Biografie Platonovs und der Geschichte der frühen Sowjetunion mitbringt, muss dennoch einiges an Rekonstruktionsleistung aufbringen, um die Texte einordnen zu können. Der nichtslavistischen Leserschaft hätte eine zusammenhängende Skizze des historisch-biografischen Entstehungshorizonts der Texte im Nachwort geholfen.

Das nächste Desiderat für die weitere Platonov-Rezeption auch im deutschsprachigen Raum ist die Wiederveröffentlichung seiner Dramatik. Für neue Inszenierungen der Texte Platonovs, die daraus hoffentlich hervorgehen,[13] werden die spannungsreichen Texte der frühen Publizistik gebraucht. Für eine Wiederentfachung der sozialistisch geprägten Tradition des Dokumentartheaters etwa, in dem historische Widersprüche in dichter Form körperlich erfahrbar werden, wären Platonovs Texte zur Proletarisierung der denkbar wirksamste Zündstoff.

Online erschienen: 2020-11-11
Erschienen im Druck: 2020-11-09

© 2020 Sandra Fluhrer, published by Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston

This work is licensed under the Creative Commons Attribution 4.0 International License.

Downloaded on 23.4.2024 from https://www.degruyter.com/document/doi/10.1515/arcadia-2020-2004/html
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