Die Therapie der Anorexia nervosa ist bislang oft nur mäßig und häufig nicht überdauernd wirksam. In den S3-Leitlinien und Manualen finden sich üblicherweise Empfehlungen, dass im Bereich des Untergewichts Zunahmen um 0,5–1,0 kg/Woche im stationären und 0,2–0,5 kg/Woche im ambulanten Setting angestrebt werden sollten. Allerdings existieren bislang wenige Handlungsempfehlungen, wie dies konkret und nachhaltig unterstützt werden kann – nach der Erfahrung der Autorinnen „die relevanten Fragen“. Die individualisierte Therapieplanung mithilfe des Gewichtsmappings hat sich dazu als erfolgversprechend erwiesen, da sie nicht nur den Zeitverlauf, sondern auch den Schwierigkeitsgrad des Bewältigungsprozesses antizipiert und die Patientin im Erwerb von aktiven Bewältigungskompetenzen unterstützen kann.

Behandlungsproblem und Ziel des Gewichtsmappings

Die Anorexia nervosa zählt mit einer Punktprävalenz von 0,3–2,8 % innerhalb der Risikogruppe junger Frauen zu den seltenen psychischen Erkrankungen, wenn partielle Erscheinungsformen nicht eingeschlossen werden (Galmiche et al. 2019; Hoek 2006; Hoek und van Hoeken 2003). Zugleich ist sie eine der schwerwiegendsten mit einer standardisierten Mortalitätsrate von 5,5–5,9 (Arcelus et al. 2011; Fichter und Quadflieg 2016), was bedeutet, dass die Sterblichkeit mehr als 5‑mal so hoch ist, wenn eine Person an Anorexie leidet gegenüber einer nichterkrankten Person ihrer Referenzgruppe. Betroffene kommen oft mit einer hohen Ambivalenz in die Behandlung in dem Sinne, dass sie z. B. weniger unter Auswirkungen der Essstörung wie Schwäche oder Isolation leiden wollen oder ihren Selbstwert verbessern möchten, aber nur bedingt eine Veränderung des Essverhaltens und des Körpergewichts wünschen. Oft gelingt eine Erhöhung der Körpersubstanz nur im stationären Setting, doch zeigen sich hier hohe Drop-out-Raten (d. h. nichteinvernehmliche, vorzeitige Beendigungen der Therapie durch Betroffene oder Behandler) von z. B. etwa 40 % unter den Volljährigen in einer Multicenterstudie (Roux et al. 2016). Zudem ist es nicht selten, dass unter häuslichen Bedingungen eine erneute Abnahme erfolgt. Die Rückfallraten – häufig verbunden mit der Notwendigkeit stationärer Wiederaufnahmen – liegen systematischen Reviews zufolge im Bereich von 9–52 % (meist aber über 25 %; Khalsa et al. 2017), mit einer metaanalytisch geschätzten mittleren Rate von 31 % (Berends et al. 2018). Hierbei gilt das erste Jahr nach Entlassung als das vulnerabelste. Damit verbunden ist oft eine schwere und persistierende Form der Anorexia nervosa (Wonderlich et al. 2020).

Das Ziel dieses Beitrags besteht daher darin, eine ergänzende Methode der individualisierten Therapieplanung vorzustellen und anhand der Technik des Gewichtsmappings (Giesemann und Rauh 2013; Rauh 2012) zu erläutern. Diese Technik nutzt standardisiert erhobene individuelle Gewichtsmarker und deren Visualisierung und stellt so eine anschauliche Orientierungshilfe dar, die Therapeut und Patientin durch die Behandlung dieses komplexen Störungsbildes navigieren kann. Durch die Analyse anamnestischer Muster im Lifechart sowie prospektiv-antizipierter Entwicklungen im Gewichtsmapping lassen sich Informationen ableiten, die für die Behandlungsplanung und -durchführung relevant sein können. Dieses Instrument der Diagnostik und Therapie wurde im Rahmen der Arbeit der Autorinnen auf einer Spezialstation für Essstörungen in der Schön Klinik Bad Staffelstein in den letzten 15 Jahren entwickelt sowie fortlaufend weiterentwickelt und hat sich der klinischen Evidenz nach bewährt (unter kontinuierlicher Evaluation im Rahmen des Qualitätsmanagements). Zudem erfolgte eine Datenanalyse anhand von 225 erwachsenen Frauen im Alter von 18 bis 55 Jahren (Mittelwert [M] = 26,3 Jahre, Standardabweichung [SD] ± 8,4 Jahre), die sich zwischen 2016 und 2019 für mindestens 21 Tage aufgrund einer Anorexia nervosa (92 %) oder einer atypischen Anorexia nervosa (8 %) in akutstationärer Behandlung im Zentrum für Verhaltenstherapeutische Medizin (ZVM) befanden (BMI bei Aufnahme: M = 15,4 kg/m2, SD ± 2,1 kg/m2). Die Diagnosestellung erfolgte gemäß der 10. Auflage der Internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD-10), wobei das Gewichtskriterium ab einem BMI von 18,5 kg/m2 oder niedriger als erfüllt betrachtet wurde, in Anlehnung an die 5. Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5) und die sich in Vorbereitung befindliche ICD-11. Als atypisch wurden Krankheitsbilder klassifiziert, wenn trotz signifikanten Körpersubstanzverlustes (noch) kein Untergewicht bestand oder keine Amenorrhoe vorlag, bei ansonsten typischem klinischem Erscheinungsbild.

Kurvenanalyse als Instrument zu Diagnostik, Intervention und Therapieplanung

Die Erhebung der Gewichtsdaten nutzt die normativ am BMI orientierte Einteilung von Unter- vs. Normalgewicht, wie sie in der ICD-10 und im DSM‑5 zur Diagnose herangezogen wird, nur peripher. Im Fokus steht der individuell-longitudinale Verlauf des Gewichts als Indikator für ein regelmäßiges und ausreichendes, also selbstfürsorgliches Essverhalten. In der Gewichtsanalyse werden zwei Techniken unterschieden. Diese werden in Kombination angewandt, nämlich (a) die retrospektive Lifechart-Erhebung und v. a. (b) das prospektive Gewichtsmapping.

Arbeit mit dem retrospektiv-anamnestischen Lifechart

Anlegen der Lebensgewichtskurve

Der Therapeut erhebt gemeinsam mit der Patientin die Lebensgewichtskurve, die von der Patientin auf Millimeterpapier gezeichnet wird. Dabei entspricht ein Zentimeterkästchen auf der y‑Achse einem Kilogramm (vom minimalen bis zum maximalen Gewicht, das die Betroffene seit dem Alter von 12 Jahren jemals außerhalb von evtl. Schwangerschaften hatte) und auf der x‑Achse einem Lebensjahr (ab dem Alter von 12 Jahren bis zum aktuellen Alter). Den so dargestellten Gewichtsverlauf über die Lebensspanne beschriftet die Patientin mit wesentlichen Informationen zu Biografie, Krankheit und Therapie (Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Lifechart, exemplarisch für eine fiktive Patientin (zur Orientierung wurden bereits Setpoint-Schätzung und ausgewählte Body-Mass-Index[BMI]-Linien ergänzt)

Auswertung der Befunde

Im Anschluss wird das Lifechart nach störungsspezifischen sowie transdiagnostischen Gesichtspunkten ausgewertet – wie im Folgenden erläutert und exemplarisch in Tab. 1 dargestellt.

Tab. 1 Beispiel für Befundung und Therapieplanung anhand des in Abb. 1 dargestellten Lifecharts

Wie hoch ist der Körpersubstanzverlust bzw. die Differenz zu dem Gewicht, das sich vermutlich ihrer Veranlagung gemäß einpendeln würde, wenn die Betroffene regelmäßig und ausreichend essen könnte? Letzteres kann als ihr vermuteter Setpoint-Regulationsbereich des Körpergewichts verstanden werden. Die Differenzwerte von aktuellem und prämorbidem Gewicht sowie aktuellem Gewicht und vermutetem Setpoint-Regulationsbereich zeigen das individuelle Spannungsfeld auf und ergänzen die Schweregradbeurteilung anhand des BMI. Beide Werte korrelieren hoch in der untersuchten Stichprobe (r = −0,80, p < 0,001). Die Setpoint-Differenz weist aber die höhere Korrelation auf, zur Häufigkeit von Essstörungsgedanken (r = 0,42, p < 0,001), zu ihrem Erleben als quälend (r = 0,38, p < 0,001) und der subjektiven Beeinträchtigung der Lebensqualität (r = 0,53, p < 0,001). Die Zusammenhänge mit dem BMI fallen etwas schwächer aus (r zwischen −0,26 und −0,41, p < 0,001). Der Unterschied in den Korrelationskoeffizienten erreicht ein Signifikanzniveau von p < 0,001, was auf den Mehrwert der Betrachtung der Setpoint-Differenz hindeutet.

Die Längsschnittdarstellung kann zudem bei der Analyse von Dauer und Verlauf der Erkrankung und der Identifikation von Mustern helfen (z. B. einem gewichtsphobischen Deckelungseffekt). Außerdem kann sie herangezogen werden, um transdiagnostisch relevante Probleme und damit verbundene potenzielle therapeutische Ziele zu klären.

Arbeit mit dem Gewichtsmapping

Die retrospektive Lifechart-Analyse mit Schätzung des Setpoint-Regulationsbereichs zeigt, wo die Patientin zu Behandlungsbeginn steht und wo sie bei Vollremission vermutlich stehen würde. Als Nächstes stellt sich die Frage, wie der Weg dazwischen bewerkstelligt werden kann. In den S3-Leitlinien und Manualen finden sich üblicherweise Empfehlungen, dass im Bereich des Untergewichts Zunahmen um 0,5–1,0 kg/Woche im stationären und 0,2–0,5 kg/Woche im ambulanten Setting angestrebt werden sollten (Herpertz et al. 2019). Es finden sich bislang wenige Handlungsempfehlungen, wie dies konkret unterstützt werden kann – nach der Erfahrung der Autorinnen die relevante Frage. Hier eignet sich als therapeutisches Werkzeug die Etablierung des Gewichtsmappings. Seine prospektive Ausleuchtung erfolgt unter Einbeziehung der individuellen Patientensicht bezüglich der Gewichtsentwicklung und der zeitlichen Vorstellung hierzu. Dabei werden meist schnell Spannungsfelder klar, die therapeutisch aber zunächst ungelöst bleiben.

Abb. 2
figure 2

Gewichtsmapping, exemplarisch ausgeleuchtet und gestaltet

Anlegen und Ausleuchten des Gewichtsmappings

Gemeinsam wird das Koordinatensystem auf der y‑ und der x‑Achse ausgeleuchtet (Abb. 2): Die y‑Achse gibt räumliche Orientierung zur Verortung im Gesamtkontext der Erkrankung und ihrer Bewältigung. Hier entspricht ein Zentimeterkästchen einem Kilogramm Körpergewicht, wobei die Skala vom niedrigsten bis zum höchsten Gewicht reicht und mit entsprechenden Linien bei Minimal- und Maximalgewicht versehen wird (seit dem Jugendalter, außerhalb von Schwangerschaften; s. Abschn. „Anlegen der Lebensgewichtskurve“). Dazwischen werden BMI-Linien zur Orientierung eingetragen: Es wird empfohlen, alle ganzen BMI-Werte zwischen dem aktuellen Gewicht und vorerst mindestens einem BMI von 19 kg/m2 zu kennzeichnen, ggf. verbunden mit einer Aufklärung über Auswirkungen der Erkrankung, wie z. B. auf die Fahrtauglichkeit oder Arbeitsfähigkeit. Die x‑Achse schafft zeitliche Orientierung. Hier steht ein Zentimeterkästchen für einen Tag, und die Beschriftung erfolgt mit dem jeweiligen Datum, begonnen ab dem ersten Wiegetag im Rahmen der Therapie. Im stationären Kontext erfolgt das Wiegen durch die Klinikmitarbeitenden, im ambulanten Setting könnte das tägliche Wiegen im Selbstmanagement erfolgen, mit einem zusätzlichen Monitoring durch Hausarzt oder Psychotherapeut, z. B. einmal wöchentlich. Exemplarisch wird das an dem Tag gemessene Gewicht gemeinsam mit einem Kreuz im Koordinatensystem markiert und die Patientin gebeten, dies künftig eigenständig einzutragen und die Gewichtskurve zu jeder Therapieeinheit mitzubringen. Im Anschluss werden die im Folgenden beschriebenen individuellen Gewichtsmarker exploriert sowie in Form beschrifteter Linien eingetragen.

Hormongrenze.

Bei welchem Gewicht eine sekundäre Amenorrhoe eingetreten ist, liefert Informationen zur Schweregradbeurteilung bzw. zum Grad der körperlichen Restitution im Therapieverlauf.

Phobiegrenzen.

Die Aktivierung der Gewichtsphobie, gezügeltes Essen und essensbezogene Sorgen sind signifikant positiv assoziiert (Calugi et al. 2018). Die Frage nach Gewichtszahlen, die in besonderem Maße Angst auslösen, hilft daher bei der Einschätzung der Expositionsschwierigkeit in unterschiedlichen Bewältigungsphasen und damit auch des Abbruchrisikos sowie der Notwendigkeit intensivierter Vorbereitung und Begleitung der Exposition. Nun kann eingeschätzt werden, wann es überhaupt zu einer Bewältigung der Gewichtsphobie kommen und die entsprechende Bewältigungserfahrung gemacht werden kann. Die Daten zeigen, dass 95,1 % der Patientinnen bei gezielter Exploration mindestens eine Phobiegrenze angeben. Häufungen ergeben sich bei den 5er- und 10er-Wechseln, insbesondere bei 50 kg. Immerhin 50,2 % der Frauen in der untersuchten Stichprobe geben 50 kg als eine ihrer Phobiegrenzen an, sodass hier eine Art „magische Grenze“ der Anorexie zu liegen scheint.

Wunschgewicht.

Hierzu könnte gefragt werden: „Wenn Gewicht etwas wäre, das wir uns aussuchen könnten, was würden Sie sich wünschen zu wiegen?“ Die Höhe des Wunschgewichts ist diagnostisch und prognostisch interessant, da ein niedrigeres Wunschgewicht u. a. mit stärkerer Symptomatik, geringerer Symptomverbesserung sowie höherem Risiko eines Drop-outs assoziiert ist (Boyd et al. 2018; Huas et al. 2011; Rienecke und Ebeling 2019), v. a. in Stichproben von Erwachsenen. In der untersuchten Stichprobe geben 83,1 % der Frauen mit Anorexia nervosa auf Nachfrage ein Wunschgewicht an. Bei zwei Dritteln davon beträgt dieses zum Zeitpunkt der Aufnahme zwischen 44 kg und 57 kg (M = 50,5 kg; SD ± 6,3 kg), was im Mittel einem BMI von 18,2 kg/m2 mit einem BMI-Range zwischen 15,9 kg/m2 (schweres Untergewicht) und 19,8 kg/m2 („mitteleuropäisches Schönheitsideal“) entspricht. In einer vergleichbaren Altersgruppe von Frauen in der Allgemeinbevölkerung beträgt laut Gesundheitsberichterstattung des Bundes der mittlere BMI 23 kg/m2 (Statistisches Bundesamt 2018). Statistisch gesehen ist nur bei wenigen Menschen mit gesundem Essverhalten ein Gewicht im BMI-Bereich um 18 kg/m2 zu erwarten. Das Wunschgewicht ist also meist deutlich niedriger als das tatsächlich zu erwartende Gewicht und daher nur durch dysfunktionale Maßnahmen der Gewichtsmanipulation zu erreichen, wie z. B. Restriktion, Erbrechen oder übermäßige Bewegung. Hier kann exploriert werden, ob die Patientin bereits die Erfahrung gemacht hat, ein Wunschgewicht nicht langfristig „halten“ zu können, ohne dauerhaft kontrolliert zu essen, und welche Folgen dies hatte. So können Methoden des geleiteten Entdeckens zur Verbesserung des Krankheits- und Bewältigungsverständnisses sowie zum Aufbau von Änderungsmotivation genutzt werden.

Setpoint-Regulationsbereich des Körpergewichts.

Gemeinsam mit der Patientin wird eine Einschätzung hergeleitet, wo sie bei regelmäßigem und ausreichendem, also selbstfürsorglichem Essverhalten, ein Einpendeln ihres Körpergewichts vermuten würde. Dieser Schätzwert wird mit einem Range ±2 kg ebenfalls im Gewichtsmapping gekennzeichnet, sodass die in vielen Manualen beschriebene Psychoedukation zum Prinzip der Setpoint-Regulation (Jacobi et al. 2016; Sipos und Schweiger 2016; Wunderer 2019) um eine personalisierte Einschätzung ergänzt wird. Auch hier kann ein Spannungsfeld zum Wunschgewicht aufgezeigt werden, ohne dass es aufgelöst werden soll. Dabei kann verdeutlicht werden, dass sich der Leidensdruck der Erkrankung in zwei Richtungen – also bidirektional – entfalten kann (Abb. 3): Einerseits nach unten in Form somatischer Beschwerden, diverser Einschränkungen oder Druck aus dem Kontext, andererseits nach oben in Form psychopathologischer Beschwerden wie einer steigenden Gewichtsphobie. Zugleich kann exploriert werden, welche negativen Erwartungen mit einer gesunden Gewichtsregulation verknüpft werden (z. B. Angst vor Ablehnung).

Abb. 3
figure 3

Bidirektionales Störungsmodell: Spannungsfeld der Anorexia nervosa

Gewichtsmanagement und Anwendung der Mapping-Technik in der Therapie

Zur Moderation der Erhöhung der Kraft- und Energiereserven wird ein „Trichter“ eingezeichnet, solange ein Untergewicht besteht (in der Regel bis BMI 18,5 kg/m2). Dabei wählt die Patientin zwischen einem moderaten (500–1000 g/Woche) und einem forcierten Vorgehen (700–1500 g/Woche), d. h., die Patientin entscheidet, welches Vorgehen sie sich zutraut. Im entsprechenden Steigungswinkel werden Linien eingetragen, und die Patientin wird gebeten, den Bereich dazwischen farbig zu unterlegen: Ziel ist es, sich in diesem Bereich zu bewegen. Die Begrenzung nach unten und oben ist essenziell, um einerseits ein Voranschreiten zu fordern und andererseits zu verdeutlichen, dass es nicht um ein „Mästen“ geht und die Angst vor zu schneller Zunahme ernst genommen wird. Wird diese im Verlauf verbalisiert, kann die Patientin einen eigenständigen Realitätscheck über das Gewichtsmapping erlernen, womit Rückversicherungsverhalten beim Therapeuten reduziert werden kann. Da Krankheitsgefühl sowie Hunger- und Sättigungserleben bei Betroffenen von Anorexia nervosa maßgeblich gestört sind (Herpertz et al. 2008; Kaye et al. 2020; Klastrup et al. 2020) fungieren Kurve und Trichter als Ersatzsystem für die Anpassung adäquater Portionsgrößen und Schutzmaßnahmen.

Erfahrungsgemäß bewährt es sich, jede Therapieeinheit oder Fallbesprechung mit dem individualisierten Gewichtsmapping zu starten, ähnlich der Arbeit mit einer Landkarte oder einem anderen Navigationssystem. Liegt der Gewichtsverlauf überwiegend im Trichter (die Patientin befindet sich also auf dem „Bewältigungsweg“), reicht hierfür ein kurzer Blick, und es können andere Therapiethemen bearbeitet werden. Zeigt das Mapping eine Abweichung oder komplexe Anforderungen (wie gravierende Phobiegrenzen) an, kann spezifische Unterstützung angeboten werden (ähnlich, wie man es von einer Autonavigation erwarten würde, um ans Ziel zu gelangen).

Die prospektive Ausleuchtung auf der Zeitachse kann der Patientin zudem helfen besser einzuschätzen, wie lange die Krankheitsbewältigung dauern würde. Außerdem ermöglicht sie die Antizipation kritischer Therapiephasen und eine entsprechende Behandlungsplanung (z. B. für welche Abschnitte ambulante oder stationäre Maßnahmen gewählt werden sollten) oder kann bei der Diskussion des Steigungsgrades des Gewichtstrichters herangezogen werden: Die Variante von 200–500 g/Woche scheint womöglich kurzfristig attraktiver, geht aber auch mit einer Verdoppelung bis Vervierfachung der Behandlungsdauer einher. Damit überspannt sie nicht nur das Kontingent an Therapiestunden oder Behandlungswochen, sondern widerspricht oft auch den langfristigen Plänen der Patientin. Die Wahl bedarf somit zumindest einer transparenten Abwägung und ggf. der Indikationsstellung für eine stationäre Behandlung, wenn die erhofften Erfolge im Gewichtsmapping trotz des Bemühens der Patientin unter ambulanten Bedingungen ausbleiben.

Ableitung einer Intervalllogik

Wird die Anorexia nervosa als eine Erkrankung verstanden, die nicht bei einem BMI 18,5 kg/m2 endet, sondern bei der das selbstinduziert-erniedrigte Körpergewicht eine Resultante der Gewichtsphobie und eines wenig selbstfürsorglichen Essverhaltens darstellt, nimmt zwar ihre somatische Komplexität im Verlauf ab, ihre psychopathologische Komplexität dagegen oftmals sogar zu (z. B. Ängste oder Scham, aversives Körpergefühl, ggf. sogar Suizidgedanken oder Flashbacks), wie bereits in Abb. 3 dargestellt. Damit ließe sich erklären, warum Behandlungen oftmals Verbesserungen auf Gewichtsebene erzielen, ohne dass eine Besserung in der Psychopathologie vorliegt (Fennig et al. 2017; Murray et al. 2018, 2019). In dieser Konstellation könnte auch das Risiko eines erneuten Gewichtsverlusts begründet liegen, wenn eine Patientin nicht lernt, ihr Essverhalten von den einzukalkulierenden Essstörungsgedanken und -gefühlen zu entkoppeln. Oft benennen Patientinnen auch Angst, mit ihren Problemen alleingelassen zu werden, wenn ihnen diese nicht mehr angesehen werden. Während eine ambulante Therapie häufig nicht ausreicht, ist eine andauernde Hospitalisierung ebenfalls nicht sinnvoll. Die logische Schlussfolgerung stellt die Einführung von Intervallmodulen in die Behandlungsstrategie dar, wie sie auch in den S3-Leitlinien erwähnt werden (allerdings dort nur bis zu einem BMI von 18,5 kg/m2; Herpertz et al. 2019). Eine konzeptuelle Umsetzung stellt im Rahmen der individualisierten Therapie mithilfe des Gewichtsmappings die Entwicklung eines Zweijahresplans mit der Patientin unter Einbeziehung ihrer Bezugspersonen und ambulanten Behandler dar, in dem der Wechsel aus stationärer Expositionstherapie und ambulanten Transferphasen geplant wird (Rauh und Ewald 2016). Die konkrete Ausgestaltung erfolgt unter Berücksichtigung der individuellen Phobiegrenzen, Bewältigungskompetenzen und Kontextbedingungen. Entsprechend werden die Dauer einer Erprobungsphase und die Häufigkeit eines E‑Mail-Kontakts während der Erprobung bereits zum Ende der stationären Therapie geplant und in einer Intervallvereinbarung zwischen Patientin und Behandlungsteam festgehalten, über die stets auch eine ausgewählte Bezugsperson und der ambulante Behandler informiert werden. Diese Vereinbarung beinhaltet standardmäßig auch eine Schweigepflichtsentbindung, sodass sich das Netzwerk bei Bedarf (z. B. Kontaktabbruch durch Patientin, Krise) austauschen könnte. Durch eine solche feste Etappenplanung wird der Bewältigungsprozess bedarfsgerecht und vorwärtsgerichtet begleitet. Exemplarisch zeigt Abb. 4 einen solchen Intervallverlauf (mit den Etappenzielen: Überschreitung der Phobiegrenze, Annäherung an und Erreichen des vermuteten Setpoint-Regulationsbereichs sowie Absicherung). Dieser ist im Fallbeispiel durch ein anorexietypisches Sägezahnprofil mit insgesamt positivem Aufwärtstrend gekennzeichnet, sodass sich das Körpergewicht unter selbstfürsorglichem Essverhalten einpendelte und parallel transdiagnostisch relevante Anforderungen bewältigt werden konnten. Ungeplante Wiederaufnahmen nach akuter Verschlechterung, wie sie beim Standardvorgehen in bis zu 50 % der Fälle auftreten (s. Abschn. „Behandlungsproblem und Ziel des Gewichtsmappings“) und die damit verbundene Chronifizierung und Demoralisierung, sollen durch ein solches Vorgehen reduziert und eine langfristige Stabilisierung angestrebt werden.

Abb. 4
figure 4

Gewichtsmapping, Verlauf der Intervallbehandlung mit einem Wechsel aus stationärer Therapie (im Zentrum für Verhaltenstherapeutische Medizin [ZVM] und Nummerierung des Aufenthalts; Markierung als Intervallmodul [Int.-Modul] bei regulärer Einhaltung), Intervallvereinbarungen (IV) bei Entlassung und Transfererprobungen, exemplarisch für die fiktive Patientin aus Abb. 1 und 2

Diskussion

Eine Herausforderung bei dem dargestellten Vorgehen besteht darin, der Patientin zu verdeutlichen, dass es bei den Mapping-Techniken nicht primär um das Gewicht geht, sondern die Gewichtsentwicklung für den Aufbau von Kraft- und Energiereserven steht und als Resultante von Selbstfürsorge betrachtet wird. Zudem handelt es sich bei den anamnestischen Gewichtsdaten meist um Schätzwerte, die Unschärfen, Lücken oder Fehler enthalten können, teils ohne dass dies von der Patientin intendiert ist, teils aber auch aus Scham oder Angst. Hier erweisen sich die Erhebung von Fremdanamnesen und auch die Sichtung von Vorbefunden als wertvoll. Die engmaschige Kooperation mit der Patientin sowie auch ihrem Bezugssystem aus Angehörigen und niedergelassenen Behandlern ist daher sowohl für die Diagnostik als auch für die Therapie mit Intervallmodulen unerlässlich.

Die erste Evaluation der Intervallstrategie weist auf ihre Effektivität hin, sowohl hinsichtlich des Einpendelns des Körpergewichts im Bereich der Setpoint-Regulation als auch hinsichtlich der Reduktion von Rehospitalisierung nach erfolgreichem Abschluss. Einschränkend bleibt zu vermerken, dass die Veröffentlichung der Ergebnisse sich noch in der Vorbereitung befindet und weitere Forschungsarbeiten mit einer Erweiterung des Follow-up-Zeitraums nötig sein werden, um die nachhaltige Wirksamkeit zu belegen.

Fazit für die Praxis

  • Die Anorexia nervosa stellt eine schwerwiegende Erkrankung dar, zu deren Bewältigung es fundierte therapeutische Strategien erfordert.

  • Techniken des Gewichtsmappings können eine hilfreiche Ergänzung darstellen, indem sie den retrospektiven und auch den prospektiv-antizipierten Verlauf zu visualisieren helfen.

  • Das anamnestische Lifechart kann ein diagnostisches Gesamtbild vermitteln, da Schweregrad der Erkrankung, Verlauf und Prognose im Längsschnitt abzulesen sind.

  • Mit dem individualisierten Gewichtsmapping gewinnen Therapeut und Patientin einen Überblick über die Erkrankung und sehen den aktuellen Gewichtsverlauf in Relation zum Setpoint-Regulationsbereich, zu Phobiegrenzen und zu dem Wunschgewicht. Das Spannungsfeld der Erkrankung kann so sichtbar gemacht werden. Auch die zeitliche Perspektive auf den Bewältigungsprozess wird dadurch eröffnet.

  • Die Trichtertechnik mit ihrer Limitierung nach oben und unten kann bei der Erhöhung der Kraft- und Energiereserven in einem angemessenen Bewältigungsrhythmus helfen.

  • Es sollten Intervallmodule in der Therapie einer Anorexia nervosa erwogen werden. Der Unterschied zur verschlechterungsbedingten Wiederaufnahme liegt in seiner vorwärts gerichteten und planvoll auf den individuellen Bewältigungsprozess abgestimmten Strategie.