Im Zusammenhang mit extremistischer Gewalt wird diskutiert, welche Rolle Psychotherapeuten in der Prävention und Früherkennung von Radikalisierung spielen können, insbesondere um ungünstige Entwicklungsverläufe zu verhindern. In der vorliegenden Arbeit wird anhand von 7 systematischen Interviews mit radikalisierten jungen Menschen untersucht, inwieweit in der Lebensgeschichte Kontakte zu Psychotherapeuten bestanden. Es zeigt sich, dass nur wenige jemals psychotherapeutische Hilfe erhielten, trotz erheblicher Belastungen in der Vorgeschichte.

Hintergrund

Das Arbeitsfeld der Extremismusprävention wird überwiegend durch pädagogische und sozialarbeiterische Fachkräfte dominiert, aber auch Sozial‑, Politik- und Geisteswissenschaftler beschäftigen sich mit dem Thema. Zu ihren Hauptaufgaben zählen neben der Primärprävention insbesondere die Beratung und Betreuung von extremistischen Personen und deren Angehörigen, beispielsweise im Rahmen von Aussteigerprogrammen. In jüngster Zeit wird aber zunehmend diskutiert, inwieweit Psychotherapeuten und Psychiater bei der Extremismusprävention und der Deradikalisierung eine bedeutsame Rolle spielen können (Bühring 2018; Dom et al. 2018). Diese Forderung resultiert aus der Erfahrung, dass sich bei radikalisierten Personen nicht nur in der Lebensgeschichte häufig Krisen und Symptome psychischer Störungen finden, sondern sowohl mit dem Radikalisierungsprozess als auch dem möglichen Ausstieg aus einer extremistischen Gruppe erhebliche psychische Belastungen verbunden sein können (Altier et al. 2014; Campelo et al. 2018). Bislang liegen jedoch keine Untersuchungen dazu vor, wie extremistische Personen psychotherapeutische Behandlungsangebote wahrnehmen und Zugang zu psychotherapeutischer Hilfe bekommen können.

Für die Begriffe „Radikalisierung“ und „Extremismus“ werden in der Literatur zahlreiche Definitionen angeboten. In dieser Arbeit wird eine Definition für Radikalisierung zugrunde gelegt, wonach ein Prozess verstanden wird, bei dem zunehmend gesellschaftliche Grundwerte infrage gestellt werden (Borum 2011). Bei den meisten Menschen bleibt es bei einer gedanklichen Auseinandersetzung mit möglichen Veränderungen oder bei rechtskonformen Handlungen (z. B. Demonstrationen; Borum 2011, 2012). Somit ist Radikalisierung nicht mit Gewaltausübung gleichgesetzt.

Mit Extremismus hingegen werden politische Einstellungen bezeichnet, die sich außerhalb oder am Rand einer freiheitlichen demokratischen Grundordnung bewegen und den Werten einer Gesellschaft drastisch entgegenstehen. Des Weiteren bedienen sich Extremisten häufig illegaler oder gewalttätiger Methoden, um ihre Ideologie zu verbreiten und deren Ziele zu erreichen (Borum 2012). Extremismus kann neben einem politischen auch einen religiösen Hintergrund haben (Campelo et al. 2018).

Radikalisierung ist ein typisches Phänomen im Heranwachsendenalter. Vermehrt berichten Schulen und Jugendzentren, mit dem Thema konfrontiert zu sein (Bergmann et al. 2017; Hüber 2017). Zudem befanden sich unter den Ausreisenden für den Islamischen Staat (IS) v. a. Jugendliche und junge Erwachsene (Bundeskriminalamt 2016). Weiterhin ist verstärkt eine Radikalisierung einzelner Jugendlichen der zweiten und dritten Einwanderergeneration in Deutschland zu beobachten, u. a. bei muslimischen Familien (Berrissoun 2014).

Gründe und Motive für eine Radikalisierung sowie die individuellen Entwicklungswege sind vielfältig. Ausgegangen wird von einem hochkomplexen Prozess (Borum 2012; Horgan 2009; Uhlmann 2008), beispielsweise, wenn zunächst persönliche Krisen mit einem Interesse an einer Ideologie eine Radikalisierung auslösen (Neumann 2013). Häufig wird vom Zusammenspiel verschiedener Faktoren gesprochen, beispielsweise wenn die Suche nach Bedeutung und Sinnhaftigkeit im Leben junger Menschen (Doosje et al. 2016; Kruglanski et al. 2014) ein starkes Bedürfnis nach Respekt, Macht und Beachtung (Macdougal et al. 2018), Zugangsmöglichkeiten (Freunde, Moschee) und unmittelbare Auslösefaktoren wie ein aktuell kränkendes Erlebnis zusammenkommen (Berrissoun 2014; Schahbasi 2009). So können das Kennenlernen prominenter Persönlichkeiten aus der radikalen Szene und die aktuelle Begeisterung dafür einen wesentlichen Beitrag zur Radikalisierung leisten (Bundeskriminalamt 2016). Dass psychische Störungen eine Radikalisierung auslösen, ließ sich grundsätzlich nicht erhärten, da nur ein kleiner Anteil der als radikal eingestuften Personen eine klinische Störung aufweist (Corner et al. 2016). In der Literatur finden sich jedoch Hinweise darauf, dass die Wahrscheinlichkeit einer psychischen Erkrankung bei radikalisierten Person, die eine extremistische Gewalttat im Alleingang planen, höher ist, als bei Personen, die sich einer extremistischen Gruppe anschließen. Insbesondere wird eine Häufung von Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis und Autismus diskutiert (Corner et al. 2016). Einige psychische Störungen sind zudem grundsätzlich mit einem erhöhten Risiko für gewalttätiges Verhalten assoziiert und können daher u. U. in der Folge eines Radikalisierungsprozesses die Entstehung extremistischer Gewalttaten begünstigen, beispielsweise narzisstische, paranoide oder dissoziale Persönlichkeitsstörungen, Schizophrenie oder Substanzmissbrauchsstörungen (Allroggen 2019). Zusammenfassend muss davon ausgegangen werden, dass psychische Störungen auch bei radikalisierten Personen durchaus häufig zu finden, aber nicht generell als Erklärungsmodell für die Entstehung von Radikalisierungsprozessen geeignet sind. Gleichzeitig können der Radikalisierungsprozess selbst und der Anschluss an extremistische Gruppen mit einer erheblichen psychischen Belastung einhergehen (Allrogen 2020).

Auch dysfunktionale bzw. traumatische Erlebnisse in der Kindheit, wie z. B. körperliche Gewalterfahrungen, stehen im Zusammenhang mit extremistischen Einstellungen und Straftaten (Baier et al. 2016). Dies schließt insbesondere in den ersten Lebensjahren neben körperlichem Missbrauch bzw. Vernachlässigung emotionalen Missbrauch und Vernachlässigung ein. Verschiedene Studien weisen auf die hohe Prävalenz traumatischer Erlebnisse in der Kindheit von Personen hin, die extremistische Straftaten begehen (Jasko et al. 2017; Simi et al. 2016). Daneben werden ein Familienklima, das durch emotionale Kälte gezeichnet ist (Glaser und Schuhmacher 2016), sowie frühe Verlusterfahrungen (Jasko et al. 2017) als Risikofaktoren für eine spätere Radikalisierung diskutiert. Neben potenziell traumatischen Erfahrungen in der Kindheit spielen aktuelle Belastungen wie Schwierigkeiten am Arbeitsplatz oder in sozialen Beziehungen eine Rolle, bei der Bereitschaft Gewalt anzuwenden, um ideologisch motivierte Ziele zu verfolgen (Jasko et al. 2017).

Aus den oben dargestellten Befunden wird deutlich, dass aufgrund der häufig berichteten frühen traumatischen Ereignisse ein erhöhtes Risiko der Entwicklung psychischer Störungen besteht und daher bei radikalisierten Personen durchaus der Bedarf für eine psychotherapeutische Behandlung postuliert werden kann. Allerdings liegen bislang keine Untersuchungen vor, die tatsächlich erfassen, inwieweit diese von Betroffenen auch in Anspruch genommen wird. Gleichzeitig scheinen Psychotherapeuten wenig Kontakt mit radikalisierten Personen zu haben. So wird in jüngster Zeit gefordert, ein strukturiertes Fort- und Weiterbildungsangebot zum „Fachpsychologen für Extremismusprävention“ zu entwickeln, um Psychotherapeuten und Psychologen notwendige Kenntnisse und Kompetenzen in der Arbeit mit radikalisierten Personen zu vermitteln und die Wahrscheinlichkeit einer Therapiemöglichkeit für radikalisierte Personen zu erhöhen (Sischka 2018). Bislang gibt es jedoch keine Untersuchungen darüber, wie radikalisierte Personen Zugang zur Psychotherapie finden können.

Die vorgestellte Untersuchung sollte daher auf der Basis von 7 leitfadengestützten Interviews mit radikalisierten jungen Erwachsenen der Frage nachgehen, ob die Befragten jemals in ihrem Leben Kontakt mit Psychotherapeuten hatten, und ob es in ihrem Leben Anknüpfungspunkte für eine Behandlung gegeben hat bzw. gegeben hätte.

Studiendesign und Untersuchungsmethoden

Die Befragung von radikalisierten Personen erfolgte Anfang 2019 im Rahmen eines vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderten Projekts zur Rolle von Heilberufen bei der Extremismusprävention. Befragt werden sollten 20 Personen, die nach einer erkennbaren Radikalisierung einen Ausstieg vollzogen haben oder sich im Prozess des Ausstiegs befinden. Darüber hinaus sollten Personen befragt werden, die im Befragungszeitraum Radikalisierungstendenzen zeigten. Die Einschätzung darüber, ob eine Person in die Untersuchung eingeschlossen werden konnte oder nicht, erfolgte jeweils im Kontakt mit Fachkräften, die Zugang zu möglichen Probanden hatten und diese für ein Interview als geeignet einschätzten. Dabei wurden grundlegende Kriterien für Probanden vorausgesetzt wie beispielsweise ausreichende Deutschkenntnisse, keine akute Suizidgefährdung, Alter von mindestens 16 Jahren und kein Gefährdungsrisiko für die Studienmitarbeiterin.

Als mögliche Zielgruppe wurden Jugendliche und junge Heranwachsende in Haftanstalten, in Aussteigerprogrammen, im Rahmen der Bewährungshilfe oder in Einrichtungen (z. B. Jugendzentren) identifiziert. Zur Rekrutierung von potenziellen Probanden wurden über 100 Kontaktadressen angeschrieben.

Das Interview mit den Probanden wurde anhand von 59 Leitfragen geführt, die in einem Expertenteam mit Fachkräften, u. a. aus Fachberatungsstellen und den Sicherheitsbehörden, entwickelt wurden. Die Fragen umfassten 8 Teilbereiche: Einstieg in das Interview; Fragen zum Radikalisierungsprozess, „leaking“ (wahrnehmbare Anzeichen von Radikalisierung) und Hilfeprozess; Fragen an den Jugendlichen/Heranwachsenden in der Rolle des „Experten“; Vorbereitung und Durchführung des klinischen Interviews; Fragen zu kritischen Lebensereignissen; Fragen zur kriminellen Vergangenheit; Fragen nach politischer Aktivität und Religion; Erkenntnisse aus dem Radikalisierungsprozess. Mit Einverständnis der Probanden wurden während des Interviews Audioaufnahmen erstellt.

Zusätzlich wurden von allen Probanden biografische Basisdaten anhand eines Fragebogens erhoben (z. B. Nationalität, Migrationshintergrund, Alter).

Die Studie wurde von der Ethikkommission der Universität Ulm positiv bewertet.

Auswertungen

Die Audioaufnahmen der leitfadengestützten Interviews mit einer Dauer von 30 min bis maximal 2 h wurden inhaltlich transkribiert und qualitativ ausgewertet. Für eine Kategoriebildung dienten die im Leitfaden vorbereiteten Fragen, die auf der eingangs erwähnten Literatur zu traumatischen Kindheitserlebnissen von radikalisierten Personen aufbauten (deduktive Kategoriebildung; Mayring 1991). Gemäß der Schwerpunktsetzung in dieser Arbeit wurde zudem erfasst, inwieweit bereits Kontakt mit Angehörigen von Heilberufen – insbesondere Psychotherapeuten und Psychiatern – sowie anderen Hilfesystemen bestand. Darüber hinaus wurde, um einen möglichen Bedarf für eine psychotherapeutische Behandlung abschätzen zu können, nach kritischen Lebensereignissen, die mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen und Belastungen einhergehen, gefragt (beispielsweise: Gibt es irgendetwas, was im Alter von [hier wurde der vom Probanden angegebene Zeitpunkt für den Beginn der Radikalisierung eingesetzt] oder davor für Dich ein Problem gewesen ist, und was wir noch nicht angesprochen haben? Wenn ja, was war das? [Beispiele nennen, Schule, Familie, Freunde etc]. Hast Du damals jemanden gehabt, der Dir geholfen hat? Hast Du Kontakt zu professionellen Helfern gehabt [z. B. Arzt, Psychologe etc.]? Wie war das für Dich [Erfahrung mit professionellen Hilfesystemen bei Problemlagen])? Im Anschluss wurden alle Aussagen der Probanden zu den ausgewählten Leitfragen von Studienmitarbeitenden mit teilweise klinischen Erfahrungen dahingehend ausgewertet, ob es sich um allgemein als kritisch einzuschätzende Lebensereignisse handelt, wie es beispielsweise beim Verlust beider Elternteile der Fall ist. Weiterhin wurde auf der Grundlage der Leitfragen zum Hilfesystem ausgewertet, welche Unterstützungsmöglichkeiten die Probanden für sich selbst zum Zeitpunkt der Belastung genannt haben und ob ein Kontakt zu Stellen aus dem Hilfesystem stattgefunden hat.

Die Fragebogen zu biografischen Daten wurden deskriptiv ausgewertet und Teile daraus für diese Arbeit extrahiert.

Ergebnisse

Deskriptiv

An der Befragung haben insgesamt 7 junge Volljährige teilgenommen, darunter eine weibliche Person. Dies stellt eine weitaus kleinere Gruppe dar, als ursprünglich geplant war. Gründe für die mangelnde Zahl waren die Zurückhaltung der Fachberatungsstellen bei der Informationsweitergabe zur Studie bezüglich ihrer Klienten, konkurrierende Forschungsprojekte z. B. in den Haftanstalten sowie die insgesamt niedrige Zahl an verfügbaren Personen, die potenziell Auskunft geben könnten.

Die Befragten waren im Alter von 18 bis 31 Jahren (durchschnittliches Alter 20,86 Jahre, Standardabweichung [SD] ± 4,64 Jahre), wobei dem ältesten Teilnehmer nach Einschätzung der betreuenden Fachkraft ein deutlich jüngeres Entwicklungsalter attestiert wurde, sodass bei den Befragten von einer Gruppe junger Erwachsener gesprochen werden kann. Vier der 7 Befragten hatten einen Migrationshintergrund, 3 deutschstämmige Eltern bzw. ein deutschstämmiges Elternteil. Ein Befragter hatte einen Flüchtlingsstatus und ein weiterer eigene Migrationserfahrung. Bis auf einen Befragten (Kindheit im Heim) sind alle bei den Eltern bzw. einem Elternteil aufgewachsen. Drei der Befragten gaben an, eine Förderschule besucht zu haben, ein Proband besuchte im Herkunftsland eine Schule, und ein Befragter gab an, die Hauptschule besucht und ohne Abschluss verlassen zu haben. Zwei der Befragten hatten einen Hauptschul- bzw. Realschulabschluss. Drei der Befragten gaben an, eine islamistisch/religiöse Radikalisierung durchlaufen zu haben, und 4 der Probanden gaben eine rechtspolitische Orientierung an. Fünf der Befragten waren zum Zeitpunkt der Befragung in Haft, ein Befragter stand nach einer Verurteilung unter Bewährungsaufsicht des Gerichts, und ein Proband wurde über ein Aussteigerprogramm für Radikalisierung mit der Studienmitarbeiterin in Kontakt gebracht. Die Interviews und Fragebogenerhebung wurden vor Ort bei den Probanden durchgeführt, beispielsweise in Haftanstalten oder bei der Polizei.

Ausgewählte Fragstellungen

Kontakt und Erfahrungen mit Fachkräften

Von den Befragten wurden unterschiedliche Berufsgruppen genannt, mit denen sie in der Kindheit und zum Zeitpunkt der Radikalisierung in Kontakt getreten sind (u. a. Sozialarbeiter, [Schul‑]Psychologen, Fachkräfte in der Drogenberatung, Lehrkräfte, Polizei). Es zeigte sich, dass (sozial-)pädagogische Fachkräfte für die Befragten (beispielsweise in der Schule, im Heim) eher präsent und ansprechbar waren als psychologische/psychotherapeutische Fachkräfte. Kontakt mit Personen der Sicherheitsbehörden wurde jeweils in Verbindung mit eigenem kriminellem Verhalten genannt. Der Kontakt erfolgte zur Aufklärung begangener Straftaten bzw. bei Verdacht darauf.

Die Frage nach Kontakt speziell zu Hilfesystemen im Bereich der Heilberufe wie beispielsweise Psychotherapeuten in Kindheit und Jugend wurde in 6 der Fälle verneint. Lediglich ein Befragter war im Grundschulalter für ca. 6 Monate stationär in einer Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie untergebracht, berichtete allerdings von negativen Erinnerungen an diese Zeit. Besonders belastend empfand er, im Rahmen der Unterbringung über Gewalterlebnisse zu Hause (Vernachlässigung, Kindesmisshandlung) berichten zu müssen.

Alle Befragten berichteten von insgesamt weniger guten Erfahrungen mit Fachkräften aller Berufsgruppen. Beispielsweise wurde von einem Befragten angegeben, dass er sich aufgrund einer Mobbingsituation in der Schule bei der Schulleitung gemeldet habe und nicht gehört wurde. In einem anderen Fall wurde von einer großen Distanz zu Betreuungspersonen im Heim berichtet und die Grundhaltung vertreten, sich selbst helfen und ohne Hilfe zurechtkommen zu müssen. In mehreren Fällen wurde berichtet, dass der Kontakt zu Hilfesysteme selbst vermieden wurde, da die Folgen einer Hilfesuche nicht absehbar gewesen wären, beispielsweise wurde das Einschalten des Jugendamts durch Fachkräfte befürchtet. Selbst in der Zeit der Radikalisierung und bei akuter Bedrohungslage gelang es einem Befragten nicht, sich Hilfe bei Fachkräften zu holen, aus Angst, dass das Jugendamt eingeschaltet werden würde. Zudem wurde befürchtet, dass der Familie etwas angetan werden könnte (z. B. durch den IS), wenn Hilfe gesucht werden würde. Bei allen Befragten wurde zudem ein enger Zusammenhang zwischen eigenen erlebten Belastungen, fehlendem Hilfebedarf und einer zunehmenden Hinwendung zu extremistischen Gruppen deutlich.

Auch in der heutigen Zeit ist die Meinung der Befragten über psychologische/psychotherapeutische Hilfemöglichkeiten eher negativ. Nur ein Befragter ist aufgrund schwerer traumatischer Erlebnisse (erlebte Vergewaltigung) während der Zeit der Radikalisierung aktuell in psychotherapeutischer Behandlung, allerdings aufgrund von Bewährungsauflagen. Ein Befragter drückte das fehlende Interesse an psychologisch-psychotherapeutischer Behandlung so aus, dass Psychologen eine andere „Sprache“ sprächen, die er selbst nicht verstehe. Ein anderer vertrat die Meinung, dass Gespräche mit Psychologen nicht hilfreich seien, da diese keine ähnlichen Erfahrungen wie man selbst gemacht hätten.

Hilfebedarf

Die Auswertung der Interviews ergab, dass 6 von 7 Befragten Hilfebedarf im Zusammenhang mit kritischen Lebensereignissen in der Kindheit und Jugend hatten, die als schwierige Lebenssituationen von den Probanden berichtet wurden (konfliktreiche Trennung der Eltern, Unterbringung im Heim und Tod beider Eltern, Vernachlässigung in der Kindheit und Kindesmisshandlung, Suchtproblematik in der Familie und mangelnde Fürsorge, Mobbing in der Schule, lebensbedrohliche Erkrankung der Mutter, unmittelbare Kriegserfahrung und Tod eines nahen Angehörigen). Bei den meisten Befragten liegen Mehrfachbelastungen in diesen Bereichen vor, beispielsweise Mobbingerfahrungen und schwere Erkrankung, Trennung der Eltern und Aufenthalt in der Psychiatrie, wechselnde Heimunterbringung nach dem Tod der Eltern. Ein Befragter gab an, keine Belastungen in der Kindheit erlebt zu haben. Die geschilderten Lebensumstände in der Kindheit lassen jedoch auch bei ihm auf eine Belastung in der Kindheit und Jugend schließen (Inhaftierung eines Elternteils, eigene Wohnungslosigkeit).

Im Zusammenhang mit den Erlebnissen wurde häufig berichtet, dass es keinen Ansprechpartner zu Hause (mehr) gab, Mutter oder Vater selbst mit eigenen Problemen (z. B. Suchtproblematik, schwere Krankheit, Inhaftierung des Vaters) belastet waren oder die Lebensumstände in der Kindheit (z. B. Leben im Kriegsgebiet, Heim) zu hohen Belastungen der ganzen Familie und wenig Möglichkeit zur Unterstützung geführt haben. Neben Folgestörungen wie Suchterkrankungen, die die Befragten auf die eigene schwierige Lebenssituation zurückführen, zeigten sich nach Aussage der Probanden Konzentrationsschwierigkeiten, depressive Symptome sowie Schlafstörungen, die teilweise bis heute medikamentös behandelt werden müssen. Ein Befragter berichtete von selbstverletzendem Verhalten als Folge erlebter Gewalt in der Kindheit. Weitere traumatische Erfahrungen finden sich auch im Rahmen der Radikalisierung, beispielsweise durch eine erlebte Vergewaltigung oder andere Formen von Gewaltanwendungen wie Drohungen und Körperverletzungsdelikte, die teilweise bis heute starke Ängste auslösen. In fast allen Fällen wurde der eigene aktuelle Hilfebedarf erkannt, jedoch konnte keiner der Teilnehmenden eine für sich adäquate Anlaufstelle für psychotherapeutische Unterstützung nennen.

Empfehlungen an Hilfesysteme

Bei der Frage, was Fachkräfte aus Hilfesystemen verbessern könnten, damit die Befragten sich bei einem Hilfebedarf an Fachkräfte gewandt und unterstützt gefühlt hätten, ergab sich kein einheitliches Bild. Während ein Teil der Befragten keine Antwort darauf wusste, meinte ein anderer Teil, dass es Zeit gebraucht hätte, bis sie bereit gewesen wären Hilfe anzunehmen. Es sollte daher zunächst ein Beziehungsaufbau zwischen ihnen und den Fachkräften stattfinden, und Fachkräfte sollten „dranbleiben“, an problematischen Kindern und am Problem. Ein zu schnelles „Zurückziehen“ der Fachkräfte hätte es unmöglich gemacht, das notwendige Vertrauen für ein mögliches Anvertrauen aufzubauen. Zudem fehlte es nach Aussage der Befragten an Kenntnissen über Möglichkeiten der Hilfestellungen insgesamt und konkrete Kontaktmöglichkeiten.

Diskussion

In dieser ersten, explorativen Studie zum Thema Inanspruchnahme von psychiatrischen und psychotherapeutischen Hilfsangeboten durch radikalisierte junge Erwachsenen zeigt sich, dass die meisten der befragten Probanden bislang kaum Kontakt zu Psychiatern oder Psychotherapeuten hatten, weder in früher Kindheit, noch zum Zeitpunkt der Radikalisierung oder danach. Auch von anderen Fachkräften gab es kaum erlebte Unterstützung, wobei teilweise angebotene Hilfen auch nicht angenommen wurden, weil das Vertrauen in Hilfesysteme fehlte und zu wenig Wissen darüber vorhanden war, welche Möglichkeiten der Unterstützung sich dadurch ergeben könnten. Bis heute fehlen den Befragten daher Möglichkeiten zur Entlastung und ein Zugang zu wichtigen Unterstützungsleistungen aus dem Hilfesystem.

Die Tatsache, dass die Studienteilnehmenden überwiegend keinen Kontakt zu Psychotherapeuten hatten, überrascht umso mehr, da in Übereinstimmung mit der Literatur (Jasko et al. 2017; Simi et al. 2016) alle 7 Befragten mit Radikalisierungserfahrungen kritische Lebensereignisse in Kindheit und Jugend erfahren haben (z. B. Tod beider Elternteile, Kindesmisshandlung), die von den Befragten als belastende Situationen geschildert wurden und teilweise bis heute Belastungsmomente auslösen. Einige Befragten berichteten zudem von weiteren Traumatisierungserfahrungen im Zusammenhang mit der eigenen Radikalisierung (erlebte Gewaltanwendung, Vergewaltigung). Gleichzeitig scheinen mit der Belastungssituation in der Kindheit teilweise psychische Störungen assoziiert oder in der Folge aufgetreten zu sein (z. B. selbstverletzendes Verhalten). Die fehlende professionelle Unterstützung ist besonders bedenklich, da der Anschluss an eine extremistische Gruppierung von den Befragten als Entlastung und Ausweg aus eigenen Belastungssituationen wahrgenommen wurde.

Ausgehend von der Tatsache, dass sich immer mehr junge Menschen radikalisieren (Bergmann et al. 2017; Hüber 2017) und es möglicherweise einen Zusammenhang mit traumatischen Erfahrungen gibt (Borum 2012; Campelo et al. 2018; Glaser und Schuhmacher 2016; Jasko et al. 2017), ist die Forderung, dass Psychotherapeuten in der Extremismusprävention eine größere Rolle spielen sollten, sinnvoll. Allerdings stellt sich die Frage, wie jungen Betroffenen der Zugang zu psychotherapeutischen Angeboten gelingen kann. Trotz der kleinen Stichprobe im Rahmen der vorgestellten Untersuchung lassen sich erste grundsätzliche Empfehlungen für Psychotherapeuten ableiten: Zunächst wird deutlich, dass die Befragten grundsätzlich eher Kontakt mit (sozial-)pädagogischen Fachkräften hatten, beispielsweise in der Schule. Dieser Kontakt kann helfen, Kindern und Jugendlichen einen Zugang zum Hilfesystem zu eröffnen („Türöffner“). Pädagogische Fachkräfte sollten demnach als wichtige Kooperationspartner von Psychotherapeuten gesehen werden, die die Kontakte zwischen radikalisierten Personen und Psychotherapeuten herstellen können. Dies kann beispielsweise gelingen, indem psychotherapeutische Sprechstunden mit anderen Beratungsangeboten (z. B. Drogenberatung) verknüpft werden. Gleichzeitig wird deutlich, dass psychotherapeutische Angebote, insbesondere, wenn bereits ein Radikalisierungsprozess begonnen hat, niederschwellig gestaltet werden müssen, damit sich Betroffene überhaupt auf eine entsprechende Behandlung einlassen können. Dies setzt voraus, dass zunächst, selbst wenn die Betroffenen keinen konkreten Behandlungsauftrag formulieren können, eine Vertrauensbasis geschaffen wird, auf der dann auch das Thema Radikalisierung und die damit verbundenen Gefahren für die Betroffenen besprochen werden können. Im Rahmen der durchgeführten Interviews wurde deutlich, dass bei den Betroffenen großes Misstrauen gegenüber Psychotherapeuten besteht. Um dieses Misstrauen zu überwinden, können aus den Untersuchungsergebnissen zwei Voraussetzungen abgeleitet werden. Einerseits benötigen jungen Menschen, die durch einen Radikalisierungsprozess gefährdet sind, Informationen über Möglichkeiten, Grenzen sowie die Rahmenbedingungen psychotherapeutischer Behandlung, wozu ebenso Informationen über die Verschwiegenheitsverpflichtung (auch gegenüber der Polizei, den Eltern und dem Jugendamt) der Psychotherapeuten gehört. Da bereits der Erstzugang zu Psychotherapeuten erschwert ist, müssen andere Fachkräfte an Schulen, Jugendzentren oder Vereinen, die niederschwelligen Kontakt zu den Betroffenen haben, diese Informationen vermitteln, um überhaupt das Interesse zu wecken. Andererseits müssen sich Psychotherapeuten mit der Thematik Radikalisierung auseinandersetzen, um Handlungssicherheit zu erlangen, z. B. bei drohenden extremistischen Gewalttaten, aber auch, um die komplexen Dynamiken in radikalen Gruppen sowie die damit verbundenen Schwierigkeiten und Belastungen der Betroffenen nachvollziehen zu können, unabhängig von der Bearbeitung der häufig vorliegenden negativen frühkindlichen Erfahrungen.

Eine weitere Indikation für eine Psychotherapie besteht darin, Betroffene während oder nach dem Deradikalisierungsprozess zu unterstützen, um nicht nur traumatische kindliche Erfahrungen, sondern insbesondere Belastungen während der Zugehörigkeit zu einer extremistischen Gruppe bearbeiten zu können.

Die im Rahmen der Studie gewonnenen Ergebnisse können aufgrund der kleinen Fallzahl und des Studiendesigns nur erste Hinweise auf mögliche hemmende Faktoren geben, die die Inanspruchnahme von Psychotherapie verhindern und damit auch einen präventiven Ansatz, um Radikalisierungsprozesse zu verhindern. Deutlich geworden ist jedoch, dass ungünstige frühkindliche Erfahrungen, die den Anschluss an radikale Gruppen begünstigen können, aufgearbeitet werden sollten, und traumatische Erfahrungen, die während der Zugehörigkeit zu einer extremistischen Gruppe gemacht wurden, behandelt werden müssen.

Fazit für die Praxis

  • In der vorgestellten Studie handelt es sich um eine Gruppe hoch belasteter und teilweise schwer traumatisierter junger Menschen, die in der Kindheit, aber auch zum Zeitpunkt der Radikalisierung traumatische Erfahrungen gemacht haben.

  • In keinem Fall konnten Hilfesysteme zur Bewältigung der Lebenssituation erfolgreich andocken und die notwendige Unterstützung leisten. Noch in der heutigen Zeit besteht große Zurückhaltung der Studienteilnehmenden, psychotherapeutische Hilfen in Anspruch zu nehmen.

  • Entsprechende Anlaufstellen sollten die Zugangsmöglichkeiten für traumatisierte junge Menschen (mit Radikalisierungstendenzen) prüfen.

  • Dabei sollte nochmals überdacht werden, wie mehr Transparenz hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten geschaffen werden kann, damit gefährdete Personen Vertrauen in die Behandlung und das Hilfesystem finden können.