Die Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) ist mit weitreichenden, negativen Konsequenzen in diversen Lebensbereichen von Betroffenen verbunden (Zanarini et al. 2012). Um diese früher einzugrenzen, die Prognose zu verbessern und somit die Lebensqualität von Betroffenen zu steigern, scheint es von Vorteil zu sein, die Störung früh zu erkennen und zu behandeln (Chanen und Thompson 2018). In diesem Beitrag wird das Rationale der klinischen Stadienmodelle erläutert, und bereits vorgeschlagene Stadienmodelle der BPS sowie deren potenzielle Anwendung werden vorgestellt.

Frühintervention bei Borderline-Persönlichkeitsstörung

Die BPS ist eine schwere psychische Störung, die typischerweise erstmals in der Adoleszenz auftritt (Kaess et al. 2014). Sie ist häufig verbunden mit einem hohen Leidensdruck, einer Vielzahl an komorbiden psychischen Störungen, hohen Suizidraten über die Lebensspanne sowie einem hohen Risiko für anhaltende, schwerwiegende psychosoziale Beeinträchtigungen (Chanen und McCutcheon 2013; Gunderson et al. 2018). In der Allgemeinbevölkerung liegen die Prävalenzraten für Erwachsene bei 5,5–5,9 % (Lebenszeitprävalenz), in Patientenpopulationen hingegen sind sie um vieles höher: Im ambulanten psychiatrischen Setting sind 15–28 % und im stationären psychiatrischen Setting 40 % der Patienten von einer BPS betroffen (Chanen und McCutcheon 2013; Gunderson et al. 2018). Forschungsergebnisse belegen, dass die BPS in der Adoleszenz eine ebenso valide und reliable Diagnose darstellt wie im Erwachsenenalter (Chanen et al. 2008; Kaess et al. 2014; Miller et al. 2008). Zusätzlich stellt die Adoleszenz eine entscheidende Phase für die Frühintervention der BPS dar, da Persönlichkeitseigenschaften in dieser frühen Lebensphase als leichter veränderbar gelten und durch die frühzeitige Behandlung der BPS die Prognose hinsichtlich der psychosozialen Beeinträchtigung positiv beeinflusst werden kann (Chanen und Thompson 2018; Sharp und Fonagy 2015).

Bei der Frühintervention der BPS lassen sich zwei Ansätze unterscheiden: Die primäre Prävention richtet sich an Personen mit Vorläufer- und subklinischen Symptomen und hat zum Ziel, diese möglichst frühzeitig zu behandeln und die Entwicklung des Vollbilds der BPS und psychosoziale Beeinträchtigungen zu verzögern, zu reduzieren oder zu verhindern. Die sekundäre Prävention richtet sich an Personen, die erstmals das Vollbild der BPS zeigen. Ziele dieses Ansatzes sind die Reduktion der Dauer der unbehandelten Störung, eine möglichst zügige Reduktion der Symptome sowie die Verhinderung sekundärer Behinderungen (Brown und McGrath 2011). Nicht jede Behandlung von Jugendlichen mit einer BPS ist mit Frühintervention gleichzusetzen. Selbst wenn sich Jugendliche erstmals in Behandlung begeben, leiden sie möglicherweise bereits seit mehreren Jahren an der Störung. Das Behandlungsangebot sollte sich daher am Krankheitsstadium orientieren und nicht am Alter der Betroffenen (Chanen 2015).

Klinische Stadienmodelle

Prinzip und Konzeption

Klinische Stadienmodelle bieten einen Rahmen, um die aktuellen Symptome und Beeinträchtigungen eines Patienten einem Krankheitsstadium vor dem Hintergrund der voranschreitenden Krankheitsentwicklung zuzuordnen und eine daran angepasste Intervention auszuwählen. Die Bestimmung des Krankheitsstadiums dient der Therapieplanung und Prognose. Die Beschreibung der Stadien erfolgt mithilfe diverser Parameter (z. B. Schweregrad, Persistenz und Wiederauftreten von Symptomen, Auswirkungen auf das Funktionsniveau oder Biomarker; McGorry et al. 2007). Es besteht die Annahme, dass Patienten in frühen Stadien besser auf die Behandlung ansprechen und eine bessere Prognose haben als Patienten in späteren Stadien. Interventionen in frühen Stadien weisen zudem ein besseres Nutzen-Risiko-Verhältnis auf, d. h., sie sind effektiver und mit weniger Nebenwirkungen verbunden. Die Behandlung in frühen Stadien soll ein Fortschreiten der Erkrankung in höhere Stadien vermeiden und einer Chronifizierung der Symptomatik entgegenwirken (Fava und Kellner 1993; McGorry 2010; McGorry et al. 2007). Dieser Ansatz wird seit Jahrzehnten sehr erfolgreich bei diversen somatischen Erkrankungen angewandt, z. B. bei Krebserkrankungen, bei denen eine möglichst frühzeitige, effektive Intervention entscheidend zur Vermeidung des Fortschreitens der Erkrankung beiträgt sowie die Lebensqualität erhöhen und das Überleben des Patienten sichern kann (McGorry 2010).

Bereits in den 1990er-Jahren wurde das Rationale des klinischen Stadienmodells erstmals auf psychiatrische Störungen, namentlich affektive und Angststörungen, angewandt (Fava und Kellner 1993). Vermehrte Beachtung erhielt die Anwendung letztlich auf psychotische Störungen durch McGorry und Kollegen (2006). Im Gegensatz zu den somatischen Erkrankungen sind die Interventionen in frühen Stadien oft weniger (Syndrom-)spezifisch, was die Tatsache berücksichtigt, dass sich die Phänotypen psychischer Störungen in frühen Stadien oft ähneln und stark überlappen und es im frühen Stadium oftmals noch schwierig ist vorherzusagen, welches manifeste Vollbild der psychischen Störung am Endpunkt der Entwicklung steht (Multifinalität; Chanen et al. 2016).

Klinische Stadienmodelle der Borderline-Persönlichkeitsstörung

In jüngster Zeit wurden klinische Stadienmodelle für diverse psychische Störungen, einschließlich der BPS, vorgeschlagen. Chanen et al. (2016) stellten ein gemeinsames Stadienmodell für die BPS und affektive Störungen vor. Dem Stadium 0 werden Individuen zugeordnet, die keine Symptome zeigen, für die aber ein erhöhtes Risiko besteht, eine affektive Störung oder eine BPS zu entwickeln. Mögliche Behandlungsstrategien sind Psychoedukation oder Selbsthilfeinterventionen. Im Stadium 1 zeigen sich subklinische BPS-Symptome, hypomane oder depressive Symptome. Empfohlene Interventionen umfassen unterstützende Beratung, Erziehungsberatung und psychosoziale Interventionen, wie z. B. Psychotherapie oder geeignete Frühinterventionen (s. unten). Spätere Stadien kennzeichnen das erstmalige Auftreten des Vollbilds der Störung, Wiedererkrankungen und Remissionen oder das Auftreten von Komorbiditäten (Tab. 1). Während die vorgeschlagenen Interventionen in frühen Stadien eher unspezifisch sind, werden in späteren Stadien spezifische Behandlungsmöglichkeiten benannt (Tab. 2). Für die Frühbehandlung der BPS empfehlen die Autoren ab Stadium 1b das von ihnen entwickelte Programm Helping Young People Early (HYPE). Es gehört zum Orygen Specialist Program (früher: Orygen Youth Health). Dieses ging ursprünglich aus der Früherkennungsidee der allgemeinen Psychiatrie hervor und bietet bis heute eine psychiatrische Versorgung für 15- bis 25-Jährige im Großraum Melbourne (Chanen et al. 2009). Jugendliche und junge Erwachsene werden aufgenommen, wenn sie 3 oder mehr Kriterien der BPS nach DSM-IV-TRFootnote 1 (Segal 2010) erfüllen. Die Behandlung in HYPE setzt sich zusammen aus einem stringenten Case Management, Krisenmanagement, Einbezug der Familie und allgemeiner psychiatrischer Versorgung zusammen mit individueller kognitiv-analytischer Therapie (Ryle und Kerr 2020). An das HYPE-Modell angelehnt entstand im deutschsprachigen Raum in Heidelberg das Modell der Ambulanz für Risikoverhalten und Selbstschädigung (AtR!Sk; Kaess et al. 2017; Reichl und Kaess 2019), das inzwischen auch an einer Reihe anderer Universitätskliniken des deutschsprachigen Raums umgesetzt wird. Auch hier ist ein Hauptziel, bereits früh im Verlauf einer BPS Interventionen einzuleiten, um die Prognose der betroffenen Jugendlichen zu verbessern. Anders als in HYPE beginnen die Früherkennung und Intervention in AtR!Sk bereits ab dem Alter von 12 Jahren. Die individuelle Psychotherapie wird im Rahmen eines Stufenmodells („stepped care“) angeboten: Sie sieht zunächst eine empirisch belegte Kurzzeittherapie mit dem Fokus der Reduktion von riskantem und selbstschädigenden Verhalten vor (Kaess et al. 2019), gefolgt von Dialektisch Behavioraler Therapie für Adoleszente (DBT-A) bei persistenter BPS-Symptomatik (Buerger et al. 2018; Kaess et al. 2017).

Tab. 1 Kennzeichen der Stadienmodelle. (Adaptiert nach Chanen et al. (2016) und Hutsebaut et al. (2019))
Tab. 2 Interventionen. (Adaptiert nach Chanen et al. (2016) und Hutsebaut et al. (2019))

Eine Alternative zu diesem ersten Stadienmodell der BPS wurde von Hutsebaut et al. (2019) vorgeschlagen. Dieses Modell ist auf die Entwicklung der BPS beschränkt und bezieht die affektiven Störungen nicht ein. Die Stadien werden aufgrund von 3 Aspekten definiert: a) Ausmaß, Dauer und Schweregrad der BPS-Symptome als Maß für die Einschränkung der Persönlichkeitsfunktionen, b) das Vorhandensein und der Schweregrad komorbider psychischer Störungen als Maß der Auswirkung dieser Einschränkung auf diverse Bereiche der Psychopathologie, und c) das Ausmaß der Beeinträchtigungen der sozialen und beruflichen Funktionsfähigkeit als Maß für die Auswirkungen dieser Einschränkung auf diverse Lebensbereiche sowie das Erfüllen von altersentsprechenden Entwicklungsaufgaben. Analog zum ersten Modell (Chanen et al. 2016) sind die frühen Stadien dieses Modells durch unspezifische und spätere Stadien durch konkretere Symptome der BPS gekennzeichnet. Eine Gegenüberstellung der Stadienmodelle findet sich in Tab. 1 und 2. Insbesondere bei den vorgeschlagenen Interventionen wird der theoretische Bezug von Hutsebaut et al. (2019) auf die Mentalisierungstheorie deutlich, während im Stadienmodell von Chanen et al. (2016) vermehrt übergeordnete Formen von Interventionen ohne spezifische therapeutische Ausrichtung vorgeschlagen werden. Basierend auf ihrem Stadienmodell schlugen Hutsebaut et al. (2020) eine mentalisierungsbasierte Frühintervention vor, die ebenfalls angelehnt ist an HYPE (Chanen et al. 2009). Sie richtet sich an Jugendliche in frühen Stadien der BPS, die subklinische Symptome oder bereits das Vollbild der BPS zeigen, wobei diese erst zeitlich begrenzt bestehen und die assoziierte Psychopathologie noch wenig stark ausgeprägt ist (Stadium 1 bzw. 2). Die Intervention zielt insbesondere darauf ab, die sozialen und beruflichen Folgen der BPS bei betroffenen Jugendlichen abzumildern.

Diskussion

Chanen et al. (2016) leisteten Pionierarbeit in der Entwicklung klinischer Stadienmodelle für die BPS. Hutsebaut et al. (2019) stellten eine Weiterentwicklung dieses ersten Modells vor, das durch eine spezifischere Beschreibung der einzelnen Stadien und Zuordnung geeigneter Interventionen zu den jeweiligen Stadien gekennzeichnet ist. Aus der Forschung sind Risikofaktoren für die Entwicklung der BPS bekannt, denen es allerdings an Spezifität für die Vorhersage der Störung mangelt. Als bester Prädiktor für die Entwicklung des Vollbilds der BPS haben sich subsyndromale Symptome, also das Vorhandensein von 1–4 BPS-Symptomen, erwiesen (Chanen und Kaess 2012; Chanen und McCutcheon 2013). Somit ist deren Vorliegen ein geeignetes Merkmal für frühe Stadien der BPS, was in beiden Stadienmodellen berücksichtigt wird. Die Neuerungen im Rahmen der Überarbeitung der ICD-11Footnote 2, infolge derer die kategoriale Einteilung bei den Persönlichkeitsstörungen zugunsten eines dimensionalen Ansatzes gewichen sind, unterstützt die Anwendung von Stadienmodellen in diesem Bereich. Durch die Einführung des „Borderline pattern qualifier“ bleibt es weiterhin möglich, dieses Muster von Einschränkungen der Persönlichkeitsfunktionen zu benennen (Huprich 2020). Die Berücksichtigung der psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen der Betroffenen bei der Beschreibung der Stadien im Modell von Hutsebaut et al. (2019) stellt eine sinnvolle Erweiterung des Modells von Chanen et al. (2016) dar, da die psychosozialen Funktionsbeeinträchtigungen trotz Remission der BPS-Symptomatik erhalten bleiben und die Lebensqualität der Betroffenen einschränken können (Kaess 2015). Ebenso für die Nützlichkeit eines Stadienmodells der BPS spricht das Vorhandensein wirksamer Therapieverfahren, die für Jugendliche adaptiert worden sind und sich in der Frühintervention der BPS als effektiv erwiesen haben (für eine Übersicht: Chanen et al. 2020). Eine weitere Differenzierung der vorgeschlagenen Modelle unter Berücksichtigung von neurobiologischen und psychosozialen Risiko- und Schutzfaktoren, die den Verlauf der BPS beeinflussen können, ist wünschenswert. Kritisch anzumerken ist, dass es bisher keine ausreichende empirische Evaluation der beiden Stadienmodelle der BPS gibt. Ebenso unzureichend bewiesen ist die den Modellen zugrunde liegende Annahme, dass die Patienten in früheren Stadien besser auf Behandlung ansprechen als in späteren Stadien. Hier werden die kommenden Jahre hoffentlich weitere Forschungsdaten liefern, damit die Stadienmodelle in der jetzigen Form entweder belegt oder entsprechend neuer Erkenntnisse adaptiert werden können.

Fazit für die Praxis

  • Stadienmodelle haben ein großes Potenzial für die Früherkennung und -behandlung der Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), da sie dabei helfen können, frühe, unspezifische Anzeichen der sich entwickelnden Störung wahrzunehmen und eine geeignete Behandlung einzuleiten, um negative Auswirkungen der Störung auf das psychosoziale Funktionsniveau frühzeitig einzugrenzen und die Prognose zu verbessern.

  • Da selbst Jugendliche, die sich erstmals in Behandlung begeben, schon Jahre unter der Störung leiden können, sollte sich das Behandlungsangebot am Krankheitsstadium orientieren, und nicht am Alter der Betroffenen.

  • Zur weiteren Verbesserung der Stadienmodelle psychischer Störungen ist es von großer Bedeutung, die zugrunde liegenden Mechanismen der Entwicklung der BPS zu erkennen und anhand derer eine frühere Erkennung und geeignete Interventionen konstant zu verbessern.