Trotz ähnlich geringem Belastungsempfinden wie in der gesunden Allgemeinbevölkerung nehmen „Pseudogesunde“ psychotherapeutische Behandlungen in Anspruch. Obgleich ihr Anteil an der Gruppe der Psychotherapiepatienten vergleichsweise hoch ist, wurde Pseudogesunden bislang in der Psychotherapieforschung wenig Beachtung geschenkt. Wichtig ist allerdings die Beantwortung der Fragen, aus welcher Motivation heraus Pseudogesunde eine Psychotherapie in Anspruch nehmen und wie stark ihre Therapiemotivation ist. Dies gilt nicht zuletzt, um Therapieabbrüchen, die bei geringem Leidensdruck und eher an somatischen als psychosozialen Ursachen orientiertem Krankheitsverständnis drohen, mit geeigneten Interventionen vorbeugen zu können.

Hintergrund

In der Psychotherapieforschung wird den „Pseudogesunden“ (Davies-Osterkamp et al. 1996; Spitzer et al. 2018, 2019) wenig Beachtung geschenkt, obgleich deren Anteil an der Gruppe der Psychotherapiepatienten in Abhängigkeit vom Behandlungssetting und der Erhebungsmethodik mit 7–23 % hoch ist (Davies-Osterkamp et al. 1996; Franke 2002; Reuter et al. 2016). Als „pseudogesund“ gelten Patienten, deren Testwerte in symptombezogenen Selbstbeurteilungsverfahren sich nicht von gesunden Personen der Allgemeinbevölkerung unterscheiden (Schauenburg und Strack 1998; Schmitz und Davies-Osterkamp 1997). Die Kategorisierung als „pseudogesund“ basiert auf der Beobachtung, dass sich die Verteilung der Testwerte einer Patientenpopulation und diejenige einer gesunden Stichprobe überschneiden. Unter der Annahme von Normalverteilungen markiert der Schnittpunkt der beiden Verteilungen den Testwert, bei dem ein Proband mit gleich großer Wahrscheinlichkeit der gesunden oder der kranken Population angehört und entspricht dem sog. c‑Kriterium resp. dem „Cut-off“-Punkt c für die Bestimmung klinisch signifikanter Veränderung (Geiser et al. 2000; Jacobson und Truax 1991; Schauenburg und Strack 1998; Schmitz und Davies-Osterkamp 1997). Bei Abweichung des Testwerts eines Probanden von diesem Cut-off-Wert in Richtung geringerer Symptombelastung gehört dieser mit größeren Wahrscheinlichkeit zur gesunden als zur kranken Population, bei einem Patienten entspricht dies der Kategorie „pseudogesund“ oder „testnormal“ (Davies-Osterkamp et al. 1996; Schauenburg und Strack 1998; Shedler et al. 1993).

Bisher gibt es wenig empirisches Wissen über diese Gruppe. Spitzer et al. (2018) haben sich anhand einer umfangreichen Stichprobe (n = 6585) stationärer Psychotherapiepatienten explorativ dieser Gruppe genähert. Die „pseudogesunden“ Patienten unterschieden sich im Hinblick auf soziodemografische Variablen lediglich darin, dass sie etwas jünger waren als die Patienten, die sich in einem symptombezogenen Selbstbeurteilungsverfahren als psychopathologisch beeinträchtigt einschätzten. Vermutete Unterschiede in den Bereichen interpersonale Schwierigkeiten und persönlichkeitsstrukturelle Defizite ließen sich nicht nachweisen. Als Erklärung für „Pseudogesundheit“ wird u. a. angenommen, dass die „pseudogesunden“ Patienten ihre Beschwerden dissimulieren, weil sie etwa sozial erwünscht antworten, oder weil sie diese verleugnen (Shedler et al. 1993). Auch eine unangemessene Wahrnehmung von Beschwerden aufgrund einer generell unzureichenden Selbstwahrnehmung, gering ausgeprägter Introspektionsfähigkeit oder einer Alexithymie wird als Erklärung diskutiert (Spitzer et al. 2018).

Trotz ähnlich geringem Belastungsempfinden wie in der gesunden Allgemeinbevölkerung nehmen die „Pseudogesunden“ psychotherapeutische Behandlungen in Anspruch, sodass die Frage naheliegt, aus welcher Motivation heraus sie dies tun. Dabei zeigen bisherige Studien, dass eine Annäherung an „Pseudogesundheit“ allein über Selbstbeurteilungsverfahren wenig fruchtbar ist (Shedler et al. 1993; Spitzer et al. 2018); vielmehr sind weitere Datenquellen wie Fremdeinschätzungen durch die Behandler einzubeziehen. Vor diesem Hintergrund wird die Psychotherapiemotivation von „pseudogesunden“ Patienten in dieser Untersuchung sowohl mithilfe der Selbsteinschätzung durch die Patienten selbst als auch aus Sicht der Bezugstherapeuten auf Grundlage der Achse I „Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen“ der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (OPD; Arbeitskreis OPD 2006) analysiert.

Material und Methoden

Studiendesign und Stichprobe

Die vorgestellten Daten wurden an Patienten erhoben, die zwischen dem 01.01.2000 und dem 31.12.2017 für eine voll- oder teilstationäre Behandlung in der Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin der Universitätsmedizin Rostock aufgenommen wurden. In der Klinik werden Patienten mit unterschiedlichen psychischen und psychosomatischen Störungen in einem multimodalen Behandlungssetting behandelt. Die Diagnosestellung erfolgt klinisch auf der Basis einer ausführlichen Anamnese gemäß ICD-10 durch erfahrene Ärzte und Psychologen. Die Patienten nehmen 4‑mal wöchentlich an der psychodynamisch-interaktionellen Gruppentherapie (Leichsenring 2015) teil, zudem erhalten sie einmal wöchentlich ein Einzelgespräch. Ergänzt wird die Behandlung durch Musik‑, Kreativ- und kommunikative Bewegungstherapie sowie progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Indikativ kommen Biofeedback, soziales Kompetenztraining, Physiotherapie sowie die Teilnahme an der Schmerz- oder Angstbewältigungsgruppe hinzu.

Instrumente

Symptom Check List 90

Zur Messung der Symptombelastung wurde die revidierte Form der Symptom Check List 90 (SCL-90‑R; Franke 2002) eingesetzt. Der 90 Items umfassende Fragebogen erfasst die subjektiv empfundene Beeinträchtigung durch körperliche und psychische Symptome einer Person in den letzten 7 Tagen. Die Beantwortung der Fragen erfolgt auf einer 5‑stufigen Skala von „nicht vorhanden“ (0) bis „sehr stark“ (4). Der „global severity index“ (GSI) als Mittelwert über alle Items misst die allgemeine psychische Belastung. Anhand des GSI erfolgte die Einteilung gemäß dem sog. c‑Kriterium (Jacobson und Truax 1991; Schauenburg und Strack 1998; Schmitz und Davies-Osterkamp 1997) in „pseudogesund“ und „belastete“ Patienten. Die teststatistischen Kennwerte des Verfahrens sind als zufriedenstellend bis sehr gut einzuschätzen. Die internen Konsistenzen (Cronbachs α) für den GSI betrugen sowohl in einer bevölkerungsrepräsentativen Stichprobe als auch für stationäre Psychotherapiepatienten α = 0,97 (Franke 2002). In der Stichprobe der vorliegenden Studie war die interne Konsistenz für den GSI der SCL-90‑R mit α = 0,93 ebenfalls hoch. Positive Korrelationen mit entsprechenden psychodiagnostischen Verfahren und fehlende substanzielle Korrelationen mit divergierenden Konstrukten sprechen für die inhaltliche Validität der SCL-90‑R (Franke 2002). Auch in anderen Studien wurde „Pseudogesundheit“ über den GSI der SCL-90‑R definiert (Davies-Osterkamp et al. 1996; Schmitz und Davies-Osterkamp 1997; Spitzer et al. 2018, 2019).

Fragebogen zur Messung der Psychotherapiemotivation

Der Fragebogen zur Messung der Psychotherapiemotivation (FMP; Schneider et al. 1989) enthält 47 Items, mit denen die Einstellungen von Probanden gegenüber eigenen körperlichen und psychischen Beschwerden, wahrgenommenen Ursachen dieser Beschwerden, Vorerfahrungen mit psychotherapeutischen Behandlungen und die Einschätzung der Eignung psychotherapeutischer Verfahren für die zukünftige Behandlung erhoben werden. Die Beantwortung der Items erfolgt auf einer 5‑stufigen Skala. Die Items werden zu den Skalen Krankheitserleben als Indikator für den beschwerdebedingten Leidensdruck, Laienätiologie im Sinne der psychosozialen Symptomattribution, allgemeine Behandlungserwartungen mit einer Präferenz für psychotherapeutische Maßnahmen und einer hohen Bereitschaft für eine aktive Rolle in der Behandlung sowie Offenheit für Psychotherapie zusammengefasst. Der Gesamtwert misst die generelle Psychotherapiemotivation. Die teststatistischen Kennwerte des Verfahrens sind befriedigend bis hoch. Die interne Konsistenz (Cronbachs α) schwankte zwischen 0,71 und 0,86 und betrug für die Gesamtskala α = 0,91. Auch die Kriteriumsvalidität ist als gut zu bewerten (Klauer et al. 2007; Schneider et al. 1989, 1999).

Achse I der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik 2

Die Achse I der OPD‑2 (Arbeitskreis OPD 2006) „Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen“ beschreibt das faktische Krankheitserleben und veränderungs- sowie indikationsrelevante Aspekte der Krankheitsverarbeitung. Die dargelegten Themenbereiche werden über 19 Items operationalisiert. Diese sind als Fremd-Rating vom Interviewer auf einer 4‑stufigen Skala zu beurteilen. Waage et al. (2011) überprüften in Anlehnung an Arbeiten zur faktoriellen Struktur der OPD‑1 (Franz et al. 2000; Thomasius et al. 2001) die inhaltlich plausible Struktur der überarbeiteten Achse I. Es wurden die Faktoren somatische Orientierung, psychische Orientierung, soziale Orientierung, Ressourcen und Offenheit sowie Hemmnisse und Krankheitsgewinn ermittelt. Zur Überprüfung der Kriteriumsvalidität der Achse I wurden die ermittelten Faktoren mit den Skalen des FMP (Schneider et al. 1989) korreliert; es zeigten sich theoriekonforme Zusammenhänge. Die internen Konsistenzen der Faktoren waren lediglich für die Dimensionen somatische Orientierung (α = 0,86) und soziale Orientierung (α = 0,74) zufriedenstellend (Waage et al. 2011). Der Faktor somatische Orientierung erfasst eine vorwiegende Fokussierung der Patienten auf körperliche Symptome, somatische Krankheitskonzepte und entsprechende Behandlungsmaßnahmen; soziale Orientierung bildet eine Konzentration auf soziale Probleme, ein an sozialen Kriterien orientiertes Krankheitskonzept und den Wunsch nach Interventionen im sozialen Bereich ab. Die übrigen, für die hier untersuchte Fragestellung relevanten Items wurden einzeln ausgewertet. Folgende Items wurden einbezogen: Leidensdruck, Darstellung psychischer Beschwerden, Einschätzung der geeigneten Behandlungsform: Psychotherapie, Art der psychotherapeutischen Unterstützung: reflektierend-motivklärend/konfliktorientiert, emotional-supportiv, aktiv-anleitend.

Statistische Auswertung

Die Auswertung erfolgte mit dem „Statistical Package for the Social Sciences“ (SPSS, Version 24.0; IBM). Die Zuordnung zur Gruppe der „pseudogesunden“ resp. „belasteten“ Patienten erfolgte nach dem c‑Kriterium gemäß folgender Formel:

$$c=SD_{\mathrm{Norm}}\times M_{\mathrm{Pat}}+SD_{\mathrm{Pat}}\times M_{\mathrm{Norm}}\div \left(SD_{\mathrm{Norm}}+SD_{\mathrm{Pat}}\right)$$

wobei \(M_{\mathrm{Norm}}\) und \(SD_{\mathrm{Norm}}\) für den Mittelwert und die Standardabweichung der gesunden Normstichprobe der im Handbuch der SCL-90‑R (Franke 2002) angegebenen geschlechtsspezifischen Schwellenwerte stehen. \(M_{\mathrm{Pat}}\)und \(SD_{\mathrm{Pat}}\) stehen für die Werte der Patientenstichprobe. Entsprechend der Datenstruktur kamen unterschiedliche statistische Analyseverfahren zur Anwendung. Die statistische Überprüfung von Häufigkeitsunterschieden in Bezug auf die soziodemografischen Variablen erfolgte über den χ2-Quadrat Test. Unterschiede zwischen den „Pseudogesunden“ und „Belasteten“ im Hinblick auf deren Psychotherapiemotivation wurden mithilfe von univariaten Kovarianzanalysen (ANCOVA) überprüft. Zudem wurden Effektstärken (d) mit den gepoolten Standardabweichungen berechnet. Die Skalen des FMP und die Items der Achse I der OPD‑2 wurden als abhängige Variablen aufgenommen, die Gruppenzugehörigkeit „pseudogesunde“ resp. „belastete“ Patienten als unabhängige Variable. Weil beim Vergleich der soziodemografischen Merkmale signifikante Unterschiede bezüglich des Schulabschlusses deutlich wurden, fungierte diese Variable als Kovariate, wobei die verschiedenen Abschlüsse in ihrer „Wertigkeit“ aufsteigend, beginnend bei der Ausprägung „ohne Abschluss“ bis zum „Abitur“, sortiert wurden. Für sämtliche Analysen wurde 2‑seitig mit einem Signifikanzniveau von p = 0,05 getestet. Aufgrund fehlender Angaben liegt den verschiedenen Auswertungen ein reduzierter Stichprobenumfang zugrunde; neben den statistischen Kennwerten werden daher Angaben zu Freiheitsgraden berichtet.

Ergebnisse

Von 1883 Patienten lagen gültige Datensätze vor. Hiervon waren 1246 Frauen (66,2 %) und 637 Männer (33,8 %) mit einem durchschnittlichen Alter von 40,3 Jahren (SD ± 12,9 Jahre). Insgesamt 1176 Patienten konnten in Bezug auf die psychiatrischen Hauptdiagnosen einer homogenen diagnostischen Gruppe zugeordnet werden. Der Mittelwert und die Standardabweichung des GSI der SCL-90‑R für die Gesamtstichprobe betrugen 1,19 ± 0,67. Der GSI-Wert der Frauen betrug GSI = 1,25 ± 0,68, die Männer erreichten einen GSI = 1,07 ± 0,63. Nach der dargestellten Formel wurden anhand dieser Ergebnisse und der Werte für die gesunde Normstichprobe aus dem SCL-90-R-Handbuch (Franke 2002) folgende geschlechtsdifferenzielle Trennpunkte (c-Kriterium) für die vorliegende Patientenstichprobe ermittelt: GSI = 0,76 und GSI = 0,56. Die mit den Daten der Patientenstichprobe ermittelten geschlechtsdifferenziellen c‑Kriterien sind vergleichbar mit denen im Manual der SCL-90‑R, die auf der Grundlage großer Datensätze für eine gesunde Normstichprobe und stationäre Psychotherapiepatienten ermittelt wurden und mit GSI = 0,77 und GSI = 0,57 angegeben werden (Franke 2002). Für die weiteren Analysen wurde die Stichprobe gemäß den auf der Grundlage der vorliegenden Stichprobe ermittelten Trennwerten in „pseudogesunde“ und „belastete“ Patienten unterteilt. Anhand dieser Werte wurden 493 Patienten als „pseudogesund“ (26,2 %; GSI ≤ 0,76; GSI ≤ 0,56) klassifiziert.

Soziodemografische und diagnostische Merkmale der Gesamtstichprobe in Abhängigkeit von der Gruppenzugehörigkeit „pseudogesunde“ oder „belastete“ Patienten sind in den Tab. 1 und 2 zusammengefasst.

Tab. 1 Vergleich der soziodemografischen Variablen zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“
Tab. 2 Vergleich der Hauptdiagnosen nach ICD-10 zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“

Die „Pseudogesunden“ und die „Belasteten“ unterschieden sich im Hinblick auf den Schulabschluss. Der Anteil der Abiturienten war unter den „Pseudogesunden“ höher (χ2 = 9,61; p = 0,001), der Anteil jener mit einem Realschulabschluss geringer als in der Gruppe der „Belasteten“ (χ2 = 4,84; p = 0,028).

Im Hinblick auf die Hauptdiagnosen zeigt sich, dass der Anteil von Patienten mit einer somatoformen Störung unter der „Pseudogesunden“ höher war als bei den „Belasteten“ (χ2 = 23,04; p = 0,000). Ein höherer Anteil von Patienten mit affektiven Störungen fand sich bei den „belasteten“ Patienten (χ2 = 11,56; p = 0,001).

Beim Vergleich der Psychotherapiemotivation (Tab. 3) zeigte sich der größte Unterschied zwischen den „Pseudogesunden“ und den „Belasteten“ auf der Skala „Krankheitserleben/Leidensdruck“ (F (1;1383) = 380,36; p < 0,001; d = 1,21).

Tab. 3 Vergleich der Psychotherapiemotivation zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“ unter Einbezug des Schulabschlusses als Kovariate

Die „Pseudogesunden“ hatten geringere Ausprägungen auf dieser Skala, d. h., sie erlebten einen geringen beschwerdebedingten Leidensdruck. Die „belasteten“ Patienten schreiben ihre Beschwerden in höherem Ausmaß als die „Pseudogesunden“ psychosozialen Ursachen wie etwa der eigenen Lebensführung oder beruflicher Belastung zu, wie der signifikante Unterschied auf der Skala Laienätiologie (F = (1;1383) 80,67; p < 0,001; d = 0,83) abbildet. Die „Pseudogesunden“ hatten eine eher somatisch orientierte Laienätiologie ihrer Beschwerden. Insgesamt gaben die „Pseudogesunden“ eine signifikant geringere Psychotherapiemotivation an als die „Belasteten“ (F (1;1383) = 133,21; p < 0,001; d = 0,72).

Die Bezugstherapeuten schätzten den Leidensdruck der „Pseudogesunden“ geringer ein als den der „Belasteten“ (F (1;714) = 22,66; p < 0,001; d = 0,42), ebenfalls die psychischen Beschwerden (F (1;714) = 33,31; p < 0,001; d = 0,50; Tab. 4). Nach Therapeutenurteil war das Krankheitskonzept der „Pseudogesunden“ weniger an sozialen Kriterien orientiert als das der „Belasteten“ (F (1;714) = 8,18; p < 0,004; d = 0,27), und sie hatten im Vergleich zu diesen weniger den Wunsch nach Interventionen im sozialen Bereich. Aus Therapeutensicht wünschten sich die „Pseudogesunden“ in geringerem Ausmaß als die „Belasteten“ emotional-supportive psychotherapeutische Unterstützung (F (1;714) = 11,85; p < 0,001; d = 0,29).

Tab. 4 Vergleich des Krankheitserlebens und der Behandlungsvoraussetzungen aus Therapeutensicht zwischen „Belasteten“ und „Pseudogesunden“ unter Einbezug des Schulabschlusses als Kovariate

Diskussion

Interpretation der Studienergebnisse und Literaturvergleich

Die untersuchte Stichprobe kann insofern als repräsentativ gelten, als dass sie in zentralen soziodemografischen und klinischen Merkmalen mit anderen Populationen stationärer Psychotherapiepatienten übereinstimmt (Liebherz und Rabung 2013; Tritt et al. 2003). So wird das Durchschnittsalter von Patienten in stationärer Psychotherapie in großen multizentrischen Studien oder Metaanalysen zwischen 36 und 43 Jahren beziffert (Herrmann und Huber 2013; Liebherz und Rabung 2013; Probst et al. 2009; Tritt et al. 2003) und betrug in dieser Untersuchung 40,3 Jahre. In der Literatur findet sich ein Anteil der Patientinnen zwischen 65,9 und 75,4 %; dieser betrug in der Stichprobe der vorliegenden Untersuchung 66,2 %. Die psychopathologische Beeinträchtigung, operationalisiert über den GSI der SCL-90‑R, der Stichprobe war mit 1,19 ebenfalls vergleichbar mit dem in anderen Studien berichteten Wertebereich zwischen 0,97 und 1,61 (Davies-Osterkamp et al. 1996; Franke 2002; Herrmann und Huber 2013; Probst et al. 2009; Schauenburg und Strack 1998). Bezüglich der klinischen Hauptdiagnosen überwogen depressive Erkrankungen, gefolgt von Angststörungen, was den Angaben einer Metaanalyse (Liebherz und Rabung 2013) entspricht. Korrespondierend zu einer an 20 deutschen psychosomatischen Fach- und Universitätskliniken durchgeführten Multizenterstudie von Pieh et al. (2011), in der die Prävalenzrate von Patienten mit somatoformen Störungen 18,4 % betrug, wurde bei 17,7 % der in der vorliegenden Studie untersuchten Patienten eine somatoforme Störung diagnostiziert.

Der Anteil „pseudogesunder“ Patienten überstieg mit 26,2 % die in der Literatur angegebenen Werte zwischen 7 und 23 % (Davies-Osterkamp et al. 1996; Franke 2002; Probst et al. 2009; Reuter et al. 2016). Gerade im tagesklinischen Setting waren „Pseudogesunde“ mit 28 % häufiger vertreten als im vollstationären Kontext (24 %). Soweit den Autoren des vorliegenden Beitrags bekannt ist, liegen zum Anteil „pseudogesunder“ Psychotherapiepatienten in Tageskliniken keine Angaben in der Literatur vor. Die überdurchschnittliche Häufigkeit „Pseudogesunder“ in der Stichprobe beruht vermutlich auf dem insgesamt hohen Anteil somatoformer Störungen (17,7 %), die innerhalb der Gruppe „pseudogesunder“ Patienten fast doppelt so häufig vorkommen, verglichen mit den „belasteten“ Patienten. Gerade Patienten mit somatoformen Störungen erzielen in der SCL-90‑R mit ihrer starken Ausrichtung auf psychische Symptome niedrigere Werte im GSI, in den alle Items einfließen (Geiser et al. 2000), sodass diese Patienten auf der Basis des GSI wahrscheinlicher als „pseudogesund“ kategorisiert werden.

Sowohl in der Selbst- als auch in der Expertenbeurteilung zeigten die „Pseudogesunden“ einen signifikant geringeren beschwerdebedingten Leidensdruck als die „belasteten“ Patienten. Dieser Befund korrespondiert mit dem Ergebnis einer anderen Studie (Spitzer et al. 2019), in der die Behandler die Symptomschwere, operationalisiert über den Beeinträchtigung-Schwere-Score (BSS; Schepank 1995), auf allen 3 Dimensionen (körperliche, psychische und sozialkommunikative Beeinträchtigung) bei den „Pseudogesunden“ geringer einschätzten als bei den „Belasteten“.

Auch bezüglich der Symptomattribution waren Selbst- und Fremdeinschätzung konsistent: Sowohl in der Subskala Laienätiologie des FMP (Schneider et al. 1989) als auch in den Dimensionen somatische resp. soziale Orientierung der Achse I der OPD (Arbeitskreis OPD 2006) wurde deutlich, dass „Pseudogesunde“ ein an somatischen (im Unterschied zu psychosozialen) Ursachen orientiertes Krankheitsmodell aufweisen. Dies ist wiederum – zumindest partiell – auf den hohen Anteil somatoformer Störungen innerhalb dieser Gruppe zurückzuführen, deren körperliche Beschwerden eine somatische Verursachung nahelegen (Henningsen et al. 2005; Rief et al. 2004). Unabhängig davon, ob das an körperlichen Faktoren orientierte Krankheitskonzept „pseudogesunder“ Patienten auf mangelndem Wissen, unzureichender Aufklärung oder der Abwehr psychosozialer Dimensionen beruht, legen die erhobenen Befunde nahe, dass primär die Bearbeitung und idealerweise Revision dieses somatischen Krankheitsmodells die Psychotherapiemotivation fördern kann. Dieser Thematik sollte insbesondere vor oder direkt zu Beginn einer Psychotherapie bei „pseudogesunden“ Patienten große Aufmerksamkeit gewidmet werden (Schneider 1990). Dies gilt umso mehr, als ein geringer Leidensdruck und ein somatisches Krankheitskonzept mit Therapieabbrüchen assoziiert sind (Donaubauer et al. 2001; Klauer et al. 2007). Rumpold et al. konnten mithilfe einer der ambulanten Psychotherapie vorgeschalteten Motivationsphase die Psychotherapiemotivation steigern; eine Veränderung des Krankheitskonzeptes konnte nicht erreicht werden (Rumpold et al. 2005).

Limitationen der Studie

Methodenkritisch ist einschränkend zu erwähnen, dass die Hauptdiagnosen nicht auf strukturierten oder standardisierten diagnostischen Interviews, sondern auf klinischen Einschätzungen beruhen, sodass auf weitere Analysen nach Diagnosegruppen verzichtet wurde. In zukünftigen Untersuchungen ist zu klären, ob sich der hohe Anteil somatoformer Störungen innerhalb der Gruppe der „pseudogesunden“ Patienten mithilfe reliabler und valider diagnostischer Interviews replizieren lässt. Deren Einsatz würde eine stratifizierte Auswertung nach Störungsbildern ermöglichen, die ergänzend sinnvoll sein und differenzierte Befunde liefern könnte. Auch die Erfassung komorbider psychischer Störungen könnte helfen, die heterogene Gruppe „pseudogesunder“ Patienten (Spitzer et al. 2018) näher zu bestimmen. Ebenfalls wäre zu klären, ob ambulant durchgeführte Maßnahmen zur Entwicklung eines adäquaten psychosomatischen Krankheitsverständnisses vor oder zu Beginn einer teil- oder vollstationären Psychotherapie dazu beitragen, nicht nur den Anteil der „Pseudogesunden“ zu verringern, sondern auch deren Behandlungsergebnis zu verbessern. Dabei ist zu vermuten, dass eine höhere Sensibilität für psychosoziale Anteile an ihrem Krankheitsgeschehen bei den „Pseudogesunden“ auch mit einer Zunahme ihrer wahrgenommenen psychischen Belastung einhergeht.

Aus gesundheitsökonomischer Perspektive könnte der hohe Anteil „pseudogesunder“ Patienten in der vorliegenden und in anderen Studien als Hinweis auf eine Fehlindikation der psychotherapeutischen Maßnahmen interpretiert werden. Diese vordergründig naheliegende Interpretation erscheint jedoch aus mindestens zwei Gründen nicht stichhaltig: Die Klassifikation „pseudogesund“ beruht ausschließlich auf Selbsteinschätzungsmaßen; laut Expertenurteil beträgt der Anteil vermeintlich unauffälliger Patienten unter 10 % (Spitzer et al. 2019). Werden Patientenselbsteinschätzung und Expertenurteil kombiniert, verringert sich der Anteil auf unter 2,5 % (Spitzer et al. 2019). Bei der Verwendung des Begriffs „pseudogesund“ ist zudem herauszustellen, dass die Patienten sich in Bezug auf ihre psychische Verfassung als gesund bezeichnen. Diese Patienten sind in der Regel nicht gesund, sondern stellen sich auf der Ebene der Selbstbeschreibung auf Symptomskalen, die vorwiegend psychische Beschwerden abfragen, und anderen psychologischen Tests, wie z. B. Persönlichkeitstests, als unauffällig dar.

In weiterführenden Studien sollte überprüft werden, ob klinische Selbstbeurteilungsverfahren für die Gruppe der „Pseudogesunden“, die psychische Beschwerden verleugnen, geeignet sind und somit eine valide Messung der realen Belastung in dieser Gruppe überhaupt möglich ist.

Resümee

Abschließend ist hervorzuheben, dass die Verbesserung des Krankheitsverständnisses sowie die Steigerung der Veränderungs- und Therapiemotivation ganz eindeutig zu den primären, vom Gesetzgeber festgelegten Aufgaben der teil- und vollstationären Psychotherapie gehören, und zwar völlig unabhängig von der vom Patienten angegebenen Symptombelastung (Spitzer et al. 2016). Somit haben auch „Pseudogesunde“ nicht nur einen gesetzlich verankerten Anspruch auf Psychotherapie, sondern werden in den Indikationskriterien in besonderer Weise berücksichtigt.

Fazit für die Praxis

  • „Pseudogesunde“ haben eine geringere Psychotherapiemotivation als „belastete“ Patienten, was einem geringeren Leidensdruck und einem somatisch orientierten Krankheitskonzept geschuldet ist.

  • Patienten mit somatoformen Störungen machen einen erheblichen Anteil an der Gruppe der „Pseudogesunden“ aus.

  • Für diese Patientengruppe erscheint es sinnvoll, eine angemessene Behandlungserwartung und -motivation für den therapeutischen Prozess zu entwickeln.

  • Psychotherapiemotivierende Interventionen vor oder zu Beginn der Behandlung sollten daher auf die Förderung eines angemessenen Krankheitsverständnisses abzielen, auch um Therapieabbrüche zu vermeiden.