Kataloge speichern Bibliotheken

Eine Bibliothek beherbergt in der Regel nicht nur Bücher, sondern Dinge unterschiedlicher Art. Gemälde zieren die Wände, Globen und Büsten stehen in Nischen, Kabinette mit Naturalia, Artificialia und wissenschaftlichen Instrumenten erweitern die Sammlung, manch anderer Schatz lagert in den Depots. Tische dienen der Ablage, gemeinsam mit Sitzmöbeln ermöglichen sie den Lesern konzentriertes Arbeiten. Gerade Tische und Stühle verweisen auf den kulturhistorisch zentralen Aspekt von Bibliotheken, nicht nur einen Sammelauftrag zu erfüllen, der sie zu Aufbewahrstätten von Büchern und Objekten macht; vielmehr sind sie von Anfang an auch als Arbeitsräume konzipiert (Knoche 2018, S.7 f.; Jochum 2007, S. 8, 27). Von der Ausstattung und Bestückung von Bibliotheken richtet sich der Blick darauf, wie sie organisiert und verwaltet werden. Immer umfangreichere Mengen an Büchern und Objekten, die in Bibliotheken vorgehalten werden, führen im Prozess ihrer Akkumulation zu ineinander geschachtelten, heterogenen Sammlungen. Komplexe Katalogsysteme sind nötig, die den Büchern und Objekten eindeutige Koordinaten zuweisen.Footnote 1

Im Folgenden geht es weder um Bibliotheken im Sinne von dreidimensionalen Sammelstätten noch um eine strenge Phänomenologie von Katalogen.Footnote 2 Vielmehr interessieren Bibliotheken als das, was Friedrich Karl Gottlob Hirsching „Vorrathskammern“ genannt hat: „in welchen die Ausbeuten aller Geistesarbeiten zur Nahrung der Nachkommenschaft gesammelt werden kann, – die Mausoleen, in denen der unsterbliche Nachlaß der edelsten Seelen beysammen ruht!“ (Hirsching 1786, unpag. [S. 8]). Genau genommen richtet sich das Augenmerk auf Kataloge aus dem bibliothekarischen Kontext, die sich als virtuelle Papierstauräume begreifen lassen: weil in ihnen die, aus Nachlässen bestückten, Bücher und andere Objekte aufnehmenden Bibliotheken angeschrieben stehen. Anhand von drei Katalogbeispielen aus dem 17. und 18. Jahrhundert soll das Verhältnis von Literatur und Materialität ausgelotet werden, wie es die enumerative Auflistung von Büchern und anderen Dingen erzeugt.

Drei historische Kataloge und ihre Sortimente

Die Niederlande üben im 17. Jahrhundert eine große Anziehungskraft auf Kaufleute, Gelehrte und Kunsthandwerker aus, zudem werden sie zum Zufluchtsort für aus Glaubensgründen verfolgte und in ihrer Existenz bedrohte Menschen. Ab 1620 suchen Vertriebene aus den Reichsgebieten ihr Heil in Holland (Wüten des Dreißigjährigen Kriegs), in der Jahrhundertmitte folgen Sozininaner aus Polen und Ostmitteleuropa, während zeitgleich als Separatisten und Häretiker diffamierte deutsche und englische Spiritualisten und Chiliasten hierher kommen (Mulsow 2011, S. 443). Von den niederländischen Gemeinden und Städten, die Asyl gewähren, spielt Amsterdam eine herausragende Rolle: Die Stadt ist offene Metropole und Welthandelsplatz, finanzielles und kulturelles Zentrum, sie hat um die Jahrhundertmitte ca. 150.000 Einwohner. Damit gehört sie zu den größten Städten Europas (van Ingen 1981, S. 5 f.). Was das Verhältnis der Holländer zu Büchern anbetrifft, so werden in den Generalstaaten im 17. Jahrhundert pro Kopf mehr Druckerzeugnisse als in jeder anderen Bücher produzierenden Nation hergestellt:

[…] they invented some of the most advanced techniques of the era for selling and marketing print. This was a land where books and reading were integral to the way society functioned, and how people thought of themselves […] it is all the more surprising that books have somehow been written out of the narrative of the Dutch Golden Age. Dazzled by the great Dutch painters […] we seem to have overlooked the quiet revolution going on in the bourgeois home. This was the way in which books were moulding and reshaping Dutch society (Pettegree und Weduwen 2019, S.1).

Genau in diese Zeit und in diese Region führt das erste Katalogbeispiel, genauer gesagt in die Jahre 1660 bis 1670 nach Amsterdam. Es ist mit einem Mann namens Benedikt Bahnsen verknüpft, dessen Geburtsdatum im Dunkeln liegt, er dürfte um 1650 als Glaubensflüchtling aus seiner norddeutschen Heimat nach Amsterdam gekommen sein, wo er sich als Verleger, Buchhändler und Rechenmeister niederließ und später auch als Bücheragent tätig war (vgl. Hakelberg 2015, Münkner 2018, S.294–300). 1669 ist er dort gestorben. Ein Jahr nach seinem Tod wurde sein auf 56 Katalogseiten verzeichneter Buchbesitz auf einer Auktion in der Grachtenstadt zum Verkauf angeboten.Footnote 3 Die ca. 3.000 Titel umfassende Sammlung mit Drucken und Manuskripten enthält eine große Anzahl religiös nonkonformer Titel und alchemistischer Schriften, wobei sich die ‚dissidenten‘ Bücher zum großen Teil schwärmerisch-mystischen, chiliastischen und anderen heterodoxen Verfassern zuordnen lassen, darunter David Joris, Valentin Weigel, Jakob Böhme, Sebastian Franck, Caspar Schwenckfeld, Paul Felgenhauer und Abraham von Franckenberg. Abgeschlossen wird der Katalog von einem Appendix, in dem sich neben Hunderten von ungebundenen Exemplaren von Titeln, die Bahnsen als Vertriebssortiment vorgehalten haben dürfte, folgende Objekte finden: 29 Land- und Himmelskarten, geometrische Grundrisse, Bilder von Kleidungen und Porträts, eine Himmelskugel und ein Erdglobus, französische Waffenspielkarten, mathematische Instrumente, 70 Pakete unbestimmten Inhalts sowie weitere unspezifizierte Varia. Anhand der gelisteten libri paradoxi (das dissidente Literatursegment), und zusammen mit korrespondierenden biographischen Auskünften im Briefwechsel zwischen Bahnsen und Herzog August dem Jüngeren von Braunschweig-Lüneburg (1579–1666), wird einerseits die heterodoxe Einstellung (Chiliasmus) und devotionale Intensität Bahnsens greifbar.Footnote 4 Anderseits tritt mit dem Appendix eine Sonderabteilung hervor, in der das aufbewahrt wird, was der Büchermasse unter ‚ferner liefen‘ mitgegeben ist: Wissens-Objekte (Karten, Globus, Grundrisse), Kunst- und Alltagsgegenstände (Bilder, Porträts, Spielkarten), undefinierte Pakete und Bücher im Rohzustand, d.h. in Form von Druckbögen (unbeschnitten, ungeheftet, unverausgabt), die der Einspeisung in den Warenkreislauf harren. Der Auktionskatalog kontrastiert also Kolonnen uniformer Bücher mit einer dinglichen Diversität. Weder die Bücher noch die Objekte sind als konkrete Stücke länger greifbar. Bislang ist es nicht gelungen, auch nur einen Titel aus Bahnsens Bücherei als physisches Exemplar zu identifizieren, ebenso wenig eines der Objekte. Die Auktionsmasse dürfte wie üblich nach der Versteigerung in alle Winde verstreut worden sein. Allein der Katalog kann eine Vorstellung davon geben, welchen Bücherschatz Bahnsen besaß und welche Dinge er selbst oder andere dieser Sammlung beimengten.

Wie sieht der Katalog aus? Er ist zusammengebunden mit dem Bestandsverzeichnis einer zweiten Gelehrtenbibliothek, nämlich der von Petrus Serrarius (1600–1669), es handelt sich also streng genommen um einen Doppelkatalog. Laut Deckblatt [Abb. 01] wurden beide Büchersammlungen am 9. April 1670 beim Pferdestall auf dem Achterburgwall versteigert. Die beiden Katalogteile sind separat paginiert, ihre Lagen haben sich aber aufgrund einer irrtümlichen Heftung zum Teil ineinander verschoben. Bahnsens Teil verzeichnet zuerst gebundene, dann ungebundene Bücher. Die gebundenen sind – entsprechend zeitgenössischem Usus – in fünf Sachgruppen geordnet und innerhalb dieser nach Formaten unterteilt und nummeriert. Auf die Abteilung „Theologie“ folgen „Alchemie und Medizin“, „Mathematik und Geschichte“, „Verschiedenes“ und „Handschriften“. Die ungebundenen Bücher sind nicht nummeriert, sondern nach Autoren bzw. Sachtiteln alphabetisch geordnet. Es folgen die restlichen 134 Lose in dem mit „Alderley Land-Caerten“ überschriebenen Appendix. [Abb. 02] Genretypologisch handelt es sich bei dem Katalog um einen formalisierten Sachtext, der Bücher als Einzelstücke und als Einheiten in Sachgruppen enumerativ listet und im Anhang weitere Dinge aufzählt.Footnote 5 Der Katalog vergegenwärtigt die physisch nicht-präsenten Stücke, die Liste postuliert Bücher und Objekte, die realiter nicht zur Verfügung stehen, abhanden gekommen und auf immer unerreichbar sind – und zwar in der Spur der bibliographischen Erfassung und in der Beschreibung objektspezifischer Merkmale. Was den Auktionskatalog der Büchersammlung Bahnsens anbetrifft, so operiert er mit einem radikal reduzierten Stil: Sachgruppen mit Formatdifferenzierung strukturieren die Seiten, wobei die Aneinanderreihung tausender von Losnummern eine Kette uniformer Einträge bildet. Wenn der Katalog in aedibus, d.h. in originalgetreuer Kopie der Bücherpositionen im Haus des Buchbesitzers angefertigt wurde,Footnote 6 darf man annehmen, dass er die historische Aufstellung dokumentiert. Damit richtet der Katalog das Regal mit den Büchern auf, re-präsentiert sie und leitet ferner den Blick in ein Extradepot, in dem sich Restposten aus Bahnsens Besitz befinden. Die Faktur des Textes besitzt eine eigene Suggestionskraft, bei hinreichender Konzentration auf die Loskolonnen sollten die Bücher wie die Objekte plastische intensiv vorstellbar werden. Der papierne Katalog ist Protokoll und literarisches Ereignis, das abwesende Dinge vergegenwärtigt.

Das zweite Katalogbeispiel steht im Zusammenhang mit Leonhard Christoph Sturm (1669–1719). Sturm wirkte zwischen 1694 und 1702 als Professor an der Ritterakademie Rudolph-Antoniana in Wolfenbüttel und unterrichtete Zivil- und Kriegsbaukunst. Anschließend wechselte er nach Frankfurt/Oder an die brandenburgische Landesuniversität Viadrina und übernahm dort eine mathematische Professur. Neun Jahre später folgte er dem Ruf Herzogs Friedrich Wilhelm von Mecklenburg-Schwerin (1675/1692–1713) auf die Stelle des Baudirektors nach Schwerin. Im Mai 1719 bestallte ihn der spätere Herzog von Braunschweig-Lüneburg, Fürst Ludwig-Rudolf (1671–1735), als Rat und Baudirektor in seiner Herrschaft Blankenburg im Harz. Dort waren dem Gelehrten kaum vier Wochen vergönnt, bevor er im Juni an einem Schlaganfall starb (Heckmann 2000). Bei Sturm – das wird in seinen Schriften und Briefen deutlich – handelt es sich um einen ambitionierten und widersprüchlichen Mann.Footnote 7 In seiner Person vereinen sich Talent, Fleiß, Streitlust und Rechthaberei. Als schriftstellerisch produktiver Architekturtheoretiker hat er nur wenige Projekte baupraktisch umgesetzt, bei seinem Angestelltenverhältnis als qualifizierter Mathematiker überraschen die parallel mit Verve und Sachverstand geführten theologischen Auseinandersetzungen. Seine Publikationen zur zivilen und militärischen Baukunst wie zu religiösen Streitfragen machten ihn bekannt, und da er keinen Disput scheute und polemisch bis kritisch, oft besserwisserisch widersprach, wurde er von seinen Zeitgenossen ambivalent beurteilt. Isolde Küster kommt zu folgendem Schluss: „Der heftige Mann, der jede Möglichkeit zu einem Zusammenstoß wahrnahm, jeden Fedehandschuh [sic] aufgriff, hat wohl keinen idealen Pietisten abgegeben“ (Küster 1942, S. 16; vgl. auch Lorenz 1992, S. 91–96 und Bognár 2020, S. 238 f.). In seinen Briefen wird er indessen als von pietistischer Gesinnung geprägter, fürsorglicher pater familias erkennbar, der sich um eine Erziehung zur Frömmigkeit und gottesfürchtigen Rechtschaffenheit für seinen Sohn bemühte.

Der Gelehrte und Akademiker Sturm gehörte in seiner Wolfenbütteler Zeit zu den häufigsten Besuchern und dankbarsten Benutzern der bibliotheca publica vor Ort, der berühmten Bibliotheca Augusta. In den acht Jahren seiner Zugehörigkeit zum Lehrkörper der Ritterakademie lieh er dort 391 Bücher aus, das Gros davon Werke, die er für seinen Unterricht benötigte. Daneben nutzte er das Angebot, auch astronomische Instrumente und einen Globus aus dem herzoglichen Büchertempel in die Akademie leihweise mitzunehmen. Diese Objekte lagerten zusammen mit Quadranten, Zirkeln und anderen metrologischen Geräten in einem Schrank der Kunstkammer von Herzog August im zweiten Stock (Raabe 2008, S. 56). Sturm besaß aber auch eine bibliotheca privata mit einer stattlichen Anzahl Büchern und wissenschaftlichen Objekten. Seine Sammlung geriet offenkundig wenige Monate nach seinem Tod in den Besitz seines letzten Dienstherrn, Fürst Ludwig Rudolf. Ob er sie käuflich von Sturms Witwe erwarb, ist unbekannt. Zusammen mit der Bibliothek des Fürsten (15.000 Bände) gelangte Sturms Sammlung dann ab 1752/53 von Blankenburg in die herzogliche Bibliothek nach Wolfenbüttel, in die sie integriert wurde (Arnold 1980, S. 48, 50). Bei der Übernahme der Sturmschen Bibliothek in die fürstliche Sammlung in Blankenburg im Sommer 1719 verzeichnete ein Notarius den Neuzugang in einer Inventarliste. [Abb.03] Unter dem Titel „Catalogus Librorum â quondam doctissimo nunc verò [pie] defuncto domino Sturmio Consiliario et Mathematico praestantissimo secundum ordinem quem ipse beatus vir dunc viveret elegit, conscriptus” sind auf 36 Seiten 434 Bücherlose (ca. 500 Einzeltitel) von Folio bis Duodez notiert.Footnote 8 Die überwiegende Mehrzahl gehört in die Sparte der Wissensliteratur mit den Schwerpunkten „Architektur/zivile und militärische Baukunst“ und „Mathematik/Geometrie“. In dieser Relation spiegelt sich eine von Sturms professionellen Erfordernissen regierte Buchanschaffung. 140 Lose fallen auf theologische Bücher, deren Anteil ebenfalls bedeutsam ist und mit Sturms sachverständigen religiösen Interventionen korreliert. Interessant ist immerhin, dass den libri theologici in separater Sektion hinter der Wissensliteratur der zweite Platz eingeräumt ist und sie zum Teil nur in gehefteten Ausgaben vorliegen. Vorausgesetzt, die Anordnung geht auf Sturm selbst zurück, dann lässt das Rückschlüsse über seine Präferenzen zu. Wobei zu beachten ist, dass die religiösen Auseinandersetzungen für ihn keine sekundäre Rolle spielten, was sich anhand seiner Einsätze als engagierter Streiter in Glaubensfragen nachweisen lässt. Auf den drei letzten Seiten präsentiert die Liste schließlich einen Anhang, der undatiert ist und womöglich erst im Nachgang zur Bücherverzeichnung erstellt wurde: „Verzeichnis der mathematischen Instrumenten [sic]“. Dort sind überwiegend Instrumente ohne Nummerierung hintereinander aufgeführt, die dem Messen, dem technischen Zeichnen und der optischen Zurüstung dienen: [Abb. 04].

Ein holländisch Scheiben Instrument von Meßing zur Geometrie gehörig mit dem Stativ / Noch ein dergleichen Instrument von Messing / Ein Kästgen worinn nachfolgende Sachen: Ein groß und ein klein speculum causticum [Brennspiegel, JM], Ein Transportor [Winkelmesser, JM], Ein Winkelmaaß, Zweÿ Zirkel, Ein Reißfeder, Ein gläsern Röhre zum Wetterglase [Barometer, JM], Ein Instrumentum pantographicum von ebenhol[t]ze und meßing [Gerät, mit dem sich ein Gegenstand perspektivisch verkleinert darstellen lässt, JM], Noch ein Zirckel, Eine kleine eisern Statera […], Ein Hohl Spiegel […], Ein Schachtelchen mit Reiß Bley.Footnote 9

Mit diesem Dingsortiment öffnet der Katalog ein formidables Instrumentenkabinett. Es ist aufschlussreich, über die literarische Qualität des Katalogs der Bahnsenschen Sammlung und des Inventars von Sturm nachzudenken: Auch wenn sie sich formal (das Inventar ist handschriftlich verfasst und besitzt kein Deckblatt) und hinsichtlich der materiellen Bestückung unterscheiden, protokollieren beide Bücher und Dinge. Aus pragmatischen Gründen mögen beide ihre Verzeichnungen teilweise manipuliert haben, denn Auktionen müssen attraktiv sein, um Käufer anzulocken, während Nachlässe aus unterschiedlichen Gründen ebenfalls Aufwertung gebrauchen. So sind möglicherweise Büchertitel und Objekte angegeben, die in den ursprünglichen Sammlungen nicht vorhanden waren und erst nachträglich der Auktionsmasse oder dem inventarisierten Nachlass zugefügt wurden. In Nachbarschaft mit den Dingen und Objekten konstituieren die gelisteten Bücher ein heterogenes Korpus. Bahnsens Katalog und Sturms Inventar sind Registraturen und zugleich Schaufenster in konkrete Materialitäten, nämlich die Bücherregale und Objektkabinette. Es sind Texte mit einer eigenen Literarizität, wenn darunter das Potenzial zur Herausbildung eines Narrativs zu verstehen ist, denn sie erzählen von Büchern und Objekten, mit denen sich historische Figuren umgaben.

Das dritte Beispiel unterscheidet sich von den vorherigen Materialproben, weil es sich um eine Katalog-Posse handelt. Das Exemplar datiert von 1725, der barock anmutende Titel lautet „Catalogus Von den raresten Büchern Und Manuscriptis, welche Bißhero in der Historia Litteraria noch nicht zum Vorschein kommen: Nun aber Nebst einem zimlichen Vorrath, von allerhand fürtrefflichen Antiquitaeten, Gemählden, Medaillen, Statuen, Naturalien, Instrumenten, Machinen und andern unvergleichlichen Kunst-Sachen, An die Meistbiethende verkaufft werden sollen“ (das in der Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel befindliche Exemplar trägt die Signatur Wt 121). [Abb. 05] Die als Auktionskatalog intendierte Auflistung einer diversifizierten Sammlung soll in den beiden Buchmessestädten Frankfurt/Main und Leipzig erschienen sein. Ob das der Fall ist und ob das Erscheinungsjahr 1725 stimmt, ist fragwürdig. Hintergrundinformationen, die anderes feststellen, konnte ich bislang nicht ausmachen. Ein rot eingefärbter Titelkupfer fungiert als Augenfang und Vestibül. Zu sehen ist ein Raum, in dessen Tiefe ein Regal mit Büchern steht. Vor den Regalablagen hängen Ketten, teilweise mit großen Schlössern; die Bände könnten entnommen werden, offensichtlich geht es aber um ihre Unverfügbarkeit. Auf der Oberkante des Regals sind zwei harlekinähnliche Kopfplastiken und ein Spielbrett positioniert. Im Vordergrund sitzt vom Betrachter aus links ein ahistorisch oder selbst wie ein Harlekin gekleideter Mann mit großem Hut und einer dicken Schlange über der linken Schulter auf einem Fass. Eine lange Pfeife rauchend, schaut er durch ein Vergrößerungsglas in seiner Linken auf ein vor sich liegendes Buch mit extra großer Schrift. In seiner Rechten hält er eine erzündete Laterne. Hinter ihm lehnt eine Hellebarde an der Wand, an deren Stiel ein fast gleichlanges Gewehr mittels Stricken so befestigt ist, dass sich eine Leiter ergibt. Auf der Konstruktion kauert ein Affe mit Brille und hält ostentativ einen übergroßen Schlüssel (für die Buchketten?) vor sich. Dem Mann gegenüber hockt auf einem Globus ein weiterer Affe mit eigenartigem Kopfschmuck und Stulpenstiefeln an den Füßen, einen Fächer in der Rechten hochhaltend und einen gegürteten Säbel tragend. Am Globus ist ein Stab mit einem Anhänger in Form eines Davidsterns befestigt, in dessen freie Mitte das biologische Signet für Maskulin eingearbeitet ist. Genau mittig im Bild auf dem Fußboden hebt ein Rüde das rechte hintere Bein und uriniert in einen kleinen Topf, der auf einem Kissen vor dem Fass steht, um dessen Inhalt (Flüssigkeit) aufzunehmen. [Abb. 06].

So symbolisch anspielungsreich das Bild, so unverblümt ironisch bis abstrus die Fracht des Katalogs, die auf den folgenden 100 Seiten annonciert wird. In drei großen Abschnitten sind „Gebundene Bücher“ (Catalogus 1725, S. 3 – 40, 200 Losnummern), „Manuskripta“ (S. 40 – 54, 50 Losnummern) und ein „Verzeichnis verschiedener unerhörter Antiquitaeten, Gemählde, Statuen […] und anderer unvergleichlichen Raritaeten“ (S. 55 – 99, 220 Losnummern) angeführt. Zwei Beispiele genügen, um einen Eindruck von der Bandbreite zu geben. Ein Interessent darf sich auf Bücher freuen, wie sie der folgende Titel stellvertretend verkündet: „Veit Lindvvurms entdeckte Geheimnüsse der verliebten Jungfern, die an der rothen Ruhr gestorben seyn; mit bewährten Zeugnüssen der Egyptischen Wahrsager erläutert, und in Lebens-Grösse auf zerbrochenen Eyerschalen, nach den Regaln der uhralten Perspectiv abgemahlet. Algier in America An. 1111. in duodez“ (Catalogus 1725, S. 6, Nr. 18). Mit Kuriositäten ist zu rechnen, die sich wie folgt ausnehmen: „Architectonische Vorstellung eines durchsichtigen Hauses auf dem freyen Felde; welches ohne Fenster und Dach auf vier steinernen Pfeilern ruhet: worinnen man diejenigen durch Beyhülffe einer Leiter und eines Strickes, an einem höltzernen Balcken gar leicht zur Raison bringen kann, welche mit ihren langen Fingern zu weit um sich gegriffen haben.“ (Catalogus 1725, S. 98, Nr. 200) In dem mit „Notus Benum. Zur Nachrichtigkeit“ überschriebenen Nachsatz übt der anonyme Verfasser beschwingt explizit und final satirische Schelte an demjenigen, der „von dem CuriositätsKitzel, dergestalt auf den Nabel der lüstrenden Neugierigkeit gestochen wird, dass er gerne von denen hierinnen benahmten Büchern, Manuscriptis, und andern übernatürlich-raren Sieben-Sachen, etwas an sich handeln möchte“ (S. 100).

In der seriösen, von Georg Andreas Will (1727–1798) kompilierten „Bibliotheca Norica Williana Oder Kritisches Verzeichnis aller Schriften welche die Stadt Nürnberg angehen“,Footnote 10 wird der Katalog (geringfügig abweichender Titel und Erscheinungsjahr 1720) in der Sektion „C. Satirae et Pasquilli“ zitiert und wie folgt eingeschätzt: „ein theils leichtfertiger, theils unerträglich kindischer, durchaus satyrischer Auktions-Catalogus, den ein gewisser Buch- oder Kunsthändler Wolrab herausgegeben, der aber auch verbotten und confiseiret [sic] worden.“ Karen Nipps, Head des Rare Book Teams an der Houghton Library der Harvard University, bezieht sich ebenfalls auf das dubiose Stück. Nachdem sie an das Diktum „don’t believe everything you read in a book“ erinnert hat, erwähnt sie Publikationsprojekte, die das vermeintlich hehre Anliegen von Autoren und Bibliotheken, nüchtern Wissen zu mehren und der Vernunft zu dienen, spielerisch und fabulierfreudig unterlaufen. Es gäbe Katalogschimären wie die des „seventeenth-century überbibliographer [sic] Gabriel Naudé“: „seemingly bored with his herculean efforts in more traditional bibliography”, habe er sich für sein eigenes Vergnügen und das anderer einen Katalog mit Büchern ausgedacht, die Autoren erst noch schreiben wollten. Ähnlich wirke der uns hier interessierende „Catalogus von den raresten Büchern und Manuscriptis welche bishero in der Historia Litteraria […]“: Ein Deutscher namens Wolrab 1720 habe ihn produziert, interessant sei neben dem ‚unerhörten‘ Inhalt die Tatsache, dass der Katalog trotz seiner offenkundigen ironischen Anlage seinerzeit von den Autoritäten zensiert und unterdrückt wurde, und zwar „for its ‚libertine‘ sentiments” (Nipps 2007, S. 241 f.). Der Katalog ist Literatur im besten Sinn, auf 100 Seiten Umfang wird ein Gespinst von Tatsachen fabuliert, das sich zu einem Kuriositätenkabinett verdichtet, in dem ein erfinderischer Geist abstruse Bücher und seltsame Dinge anhäuft. Auf der Schaubühne, die der Text mit Hilfe der enumerativen Liste evoziert, wird schließlich ein als Marotte denunzierten Gelehrsamkeitshabitus und Auktionsmodus persifliert.

Kataloge als Schaufenster in Bibliotheken – Resümee (Kataloge ‚realisieren‘ Bücher und Objekte)

Weder schreit noch lärmt das geschriebene und gedruckte Buch, wie Alois Hass räsoniert, „es wahrt eine minimale Diskretion zu seinem Benützer; in seinem Phänotyp ist es ein beharrlicher Widerpart gegenüber jeder auf Laute fixierten medialen Mobilität heute“ (Haas 2011, S. 100). Die vorgestellten Kataloge – so viele Bücher und Gegenstände sie annoncieren – sind selbst Bücher. Als solche sind sie Drucke mit einer „zurückhaltenden materiellen Eigenart“ (ebd.). Aber sie sind zugleich Transporteure einer raumgreifenden, realgewichtigen Materialität, die zwar in der enumerativen Repräsentation aufgehoben ist, aber in der lebensweltlichen Wirklichkeit der Objekte weiter besteht. Mit Haas lässt sich das Verhältnis von Literatur und Materialität weiter präzisieren, wenn wir unter seiner Führung die für unseren Zweck aufschlussreiche, einzigartige Materialität des Buches noch genauer betrachten. In der den Tast- und Sehsinn adressierenden Medialität des Buches, die eng mit seiner materiellen Verfasstheit korreliert, ist die „Potenz geistiger Erweckung“ des Buches und von Literatur enthalten, die ästhetische und imaginative Implikationen besitzt.

Wenn man Kataloge als realistische Sachtexte begreift, bedeutet das, ihnen eine Wirklichkeitsnähe zu bescheinigen, die sich aus den listenartigen Einträgen ergibt: Die enumerative, quasi-literarische Darstellung ‚realisiert‘ im Sinne von stellt her, was den Inhalt der Darstellung ausmacht. Die Listentexte mögen nicht unbedingt ‚realistisch’ bezüglich tatsächlicher Bestände sein, die sie abbilden. Dafür ‚realisieren‘ sie Sammlungen und Objekte in Listen. Kataloge sind Annoncen, die von Büchern und Dingen künden, die physisch-konkret nicht (mehr) vorhanden sind. Die Kataloge sind das Repositorium, in dem sich diese abwesenden Dinge vergegenwärtigen. Objektanhänge wiederum erden die gelisteten Bücher in der Weise, dass sie der bibliographischen Schwerelosigkeit eine physische, objektspezifische Materialität zur Seite stellen. Der Bibliophile Otto Deneke (1875–1956) behauptete: „Kataloge haben Ewigkeitswert: sie überleben den Sammler und seine Sammlung.“Footnote 11 Kataloge helfen, Bücher und Objekte zu verwalten, so gesehen ist jeder Katalog ein Organisationswerkzeug. Die Materialität von Büchern und Objekten ist im Narrativ der Listentexte, der einen Papierstauraum evoziert, zugleich aufgehoben (virtualisiert) und als zurückhaltendes wie aufdringliches Realgewicht in die Vorstellung des Kataloglesers delegiert.