Zusammenfassung
Einige Leitmotive eines weitgehend der psychoanalytischen Arbeit gewidmeten Lebens werden herausgegriffen: Der A-priori-Ansatz der Psychoanalyse ist, dass alles Seelische – sei es bei den Patienten und in uns selbst, sei es in der Kultur und Gesellschaft, sei es in den Religionen – mit Vorteil als Ausdruck von Konflikt und von Komplementarität zu verstehen sei: Wie alles innerlich im Widerstreit von Gegensätzen abläuft, doch wie sich allmählich diese Polaritäten gegenseitig ergänzen können. Fast alles wird annehmbar, wenn man es als Konflikt deutet, und zwar ganz spezifisch und konkret; denn die Psychoanalyse ist die Kunst des Spezifischen. Das Allgemeingültige ist wissenschaftlich überaus wichtig, in der klinischen Arbeit bleibt es aber leer, wenn es nicht mit spezifischem Erlebnisinhalt gefüllt wird. Dabei sticht eine Antithese hervor: die von innerer und äußerer Realität, von Subjektivität und von Objektivität, von Verstehen und Erklären. Eine moderne Fassung dieser Antithese ist die zwischen dem erzählerischen Charakter dessen, wie wir mit den Patienten arbeiten und über sie berichten, und dem immer größeren Druck, alles in Zahlen, in Diagrammen, in Prozenten ausdrücken zu müssen – die Spannung zwischen dem Qualitativen und dem Quantitativen, oder zum jetzigen Thema: dem Zeitablauf in der Biographie, also im Erzählten, gegenüber dem Zeitlosen des Gezählten.
Ein anderes Leitmotiv ist die Grundhaltung von Verstehen statt Verurteilen: die systematische Überichanalyse, namentlich der Überichübertragung. Ein wichtiges Element problematischer, ja schädlicher Gegenübertragung ist das Agieren einer Überichhaltung, z. B. in Form von konfrontativen („trieborientierten“), als vorwurfsvoll erlebten Deutungen.
Ein anderes Klischee, das der Erfahrung widerspricht, betrifft die fast ausschließliche Wertigkeit von Übertragungsdeutungen. Auch Deutungen außerhalb der Übertragung können von großer Hilfe und Wichtigkeit sein. Deutungen dessen, was in Gegenwartsbeziehungen abläuft, haben eine emotionale Dringlichkeit, die sie ideal zur Erkennung und Bearbeitung unbewusster Konflikte macht. Die Frage bleibt ständig: Worauf konzentrieren wir uns am besten, um die unbewussten Konflikte einer Lösung näher zu bringen?
Abstract
A few Leitmotifs of a lifetime dedicated to psychoanalytic work are presented: The a priori assumption of psychoanalysis is that everything psychical – whether in patients or in ourselves, in culture and society, or in the religions – can preferentially be understood as expression of conflict and complementarity: that everything in inner life may best be studied as struggle between opposites and of how these polarities gradually complement each other. Almost everything can become acceptable if it is being interpreted as conflict. This has to happen in very specific and concrete terms, for psychoanalysis is the art of the specific. The universally valid is scientifically very important, but in clinical work it remains empty unless filled with specific experiential content. The antithesis between inner and external reality, between subjectivity and objectivity, between understanding and explaining, determines all psychoanalytic discourse. A modern version of this antithesis pits the narrative character of how we work with our patients and report about this work, against the ever increasing pressure to express everything in numbers, in diagrams, in percentages – i.e., the tension between the qualitative and the quantitative, between the time flow of the biography (its narration) and the timelessness of what is counted.
Another Leitmotif is the basic attitude and motto of “exploring instead of judging”, entailing the systematic superego analysis, especially the work on the superego transference. An important element of problematic, even noxious countertransference is the therapist’s acting out of a superego attitude, e.g. in form of confrontative (“drive oriented”) interpretations that are experienced by the patient as reproach.
A cliché contradicted by experience is that of the almost exclusive value of transference interpretations. Clinical work shows that interpretations outside the transference may also be of great help and importance; in particular, the exploration of issues in current relationships outside of treatment may have an emotional urgency that may make them ideal for recognition and working through of unconscious conflicts. The central question always remains: What do we best focus upon if we want to bring the unconscious conflicts closer to resolution.
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Vortrag, gehalten am 16.10.2004 in Magdeburg auf dem Symposion „Psychoanalytische Identität in Deutschland“.
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Wurmser, L. „Das Auge ist’s, was die Taten verwandelt. Das neugeborene Auge verwandelt die alte Tat“. Forum Psychoanal 36, 3–19 (2020). https://doi.org/10.1007/s00451-020-00385-7
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