Die Arbeitsgemeinschaft (AG) Psychodynamischer Professorinnen und Professoren veranstaltete am 04. und 05.10.2019 an der International Psychoanalytic University (IPU) Berlin ein Symposion zum Thema „Strukturen und Methoden einer zeitgemäßen psychodynamischen Ausbildung und Forschung“. Den Anlass für diese Veranstaltung bildete der erst kürzlich angestoßene, tiefgreifende Veränderungsprozess in der zukünftigen Organisation und den Inhalten der Aus- bzw. Weiterbildung zum Psychotherapeuten. Denn am 26.09.2019 verabschiedete der Deutsche Bundestag ein Gesetz zur Reform der Psychotherapeutenausbildung (Bundesrat 2019), das die Einführung eines neuen fünfjährigen Bachelor- und Master-Studienganges vorschreibt, welcher mit einer Approbation abgeschlossen werden kann.

Auch wenn die Approbationsordnung, die die Inhalte und Lehrmethoden vorschreibt, noch nicht endgültig verabschiedet ist (Bundesministerium für Gesundheit 2020), steht schon fest, dass zukünftig alle wissenschaftlich anerkannten psychotherapeutischen Verfahren, darunter auch tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und analytische Psychotherapie (im Folgenden zu psychodynamischen Verfahren zusammengefasst), im Studium substanziell gelehrt werden müssen. Das bedeutet, dass wesentliche Inhalte der bisherigen psychotherapeutischen Ausbildung, wie sie von den Instituten der Fachgesellschaften angeboten werden, gleichsam in das Universitätsstudium zurückverlegt werden.

Das Symposion der AG Psychodynamischer Professorinnen und Professoren arbeitete in vier parallelen Arbeitsgruppen zu folgenden Themenschwerpunkten:

  • zukünftige Zusammenarbeit von Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen,

  • innovative didaktische Konzepte,

  • Modelle einer zeitgemäßen Supervision,

  • Perspektiven psychodynamischer Forschung.

Die Leiter(innen) dieser Arbeitsgruppen stellen in diesem Themenheft des Forum der Psychoanalyse die Ergebnisse der Gruppenarbeit vor. Sie alle beziehen sich auf die eingangs erwähnten, gravierenden rechtlichen Veränderungen, lassen aber außerdem erkennen, dass auch schon die bisher übliche psychotherapeutische Aus- bzw. Weiterbildungspraxis reformbedürftig ist.

Cord Benecke und Rainer Krause fassen zusammen, welche Vorschläge ihre AG zur zukünftigen Zusammenarbeit von Universitäten und Weiterbildungseinrichtungen erarbeitet hat. Sie erwarten, dass die bisherigen Ausbildungsinstitute gezwungen sein werden, ihre Ambulanzen in wirtschaftlich arbeitende Versorgungseinrichtungen umzuwandeln. Denn die Weiterbildungsteilnehmer werden für die Dauer ihrer voraussichtlich fünfjährigen Weiterbildung vermutlich fest angestellt werden müssten. Kleinere Institute werden ihre Ambulanzen wohl zusammenlegen müssen – oder sich überhaupt zusammenschließen.

Universitätsinstitute und Weiterbildungseinrichtungen werden künftig stärker kooperieren müssen. Sie sollten ihre Inhalte aufeinander abstimmen, wechselseitig Lehrbeauftragte bereitstellen und insbesondere in der Forschung zusammenarbeiten. Angesichts der zu geringen Zahl an berufungsfähigen psychodynamischen Nachwuchswissenschaftlern wäre es besonders wichtig, dass Weiterbildungsteilnehmer zukünftig schon frühzeitig die Gelegenheit wahrnehmen könnten, sich parallel zur Weiterbildung wissenschaftlich zu qualifizieren, insbesondere durch eine Promotion. Insofern bietet die neue Gesetzeslage auch Chancen, die unbedingt genutzt werden sollten. Denn die Psychoanalyse wird auf Dauer nur fortbestehen, wenn sie auch an den Universitäten gelehrt werden kann.

Johannes Ehrenthal und Inge Seiffge-Krenke leiteten die Arbeitsgruppe zu innovativen didaktischen Konzepten. Auch sie betonen, dass die sich ändernde Gesetzeslage, einschließlich der jetzt schon zu erkennenden Approbationsordnung, die bisherige Aus- bzw. Weiterbildung hinsichtlich der didaktischen Gestaltung und der zu prüfenden Kompetenzen stark verändern wird. Die Seminare in der zukünftigen Weiterbildung sollen ausdrücklich „anwendungs- und gegenstandsbezogen“ gestaltet werden, möglichst auch unter Einbeziehung von Patienten und Simulationspatienten – das können spezifisch trainierte Schauspieler sein oder auch trainierte Personen, die tatsächlich unter einer bestimmten Erkrankung leiden.

Ausführlich und mit zahlreichen Hinweisen auf empirische Untersuchungen schildern die Autoren, wie in der Weiterbildung diagnostische Kompetenz vermittelt werden kann, und zwar mithilfe der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik für Erwachsene und für das Kindes- und Jugendalter. Auch hier empfehlen sie den Einsatz von Videos, und sie werben für ihre Auffassung, dass der Einsatz der OPD auf der einen Seite und das „szenische Verstehen“ auf der anderen durchaus keinen Widerspruch bilden, „sondern einander ergänzen und validieren.“

Anhand des Fallbeispiels eines neunjährigen Mädchens, das von ihren Eltern vorgestellt wird, erläutern sie zum einen, wie mit den Studierenden geübt werden könnte, konfliktbezogene und strukturelle diagnostische Perspektiven zu unterscheiden und anzuwenden. Zum anderen legen sie nahe, die Weiterbildungen zum psychodynamischen Erwachsenentherapeuten mit der zum Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeuten zu verschränken.

Zur Entwicklung der diagnostischen Kompetenz zukünftiger Studierender und Weiterbildungsteilnehmer stellen sie die Methoden des erfahrungsbasierten und des kompetenzbasierten Lernens einander gegenüber. Während die kompetenzbasierte Lehre eng operationalisierte Kompetenzen („Lernzielkataloge“) verfolgt, ist das erfahrungsbasierte Lernen eher ein zyklischer Prozess, ein Pendeln zwischen Handlungserfahrung und Reflexion und der Versuch, durch Generalisierung und Abstrahierung Schlussfolgerungen zu ziehen. Zweifellos setzen erfahrungsbasierte Lehrformate aufseiten der Lehrenden nicht nur klinisch-theoretische Kenntnisse, sondern auch didaktische und möglichst auch supervisorische Erfahrungen voraus.

Peter Döring und Heidi Möller berichten aus der Arbeitsgruppe zu Modellen einer zeitgemäßen Supervision. In ihrem Bericht tragen sie zusammen, was die Teilnehmer ihrer AG – zumeist selbst erfahrene Supervisorinnen und Supervisoren – als förderlich oder hinderlich im supervisorischen Prozess einschätzten. Wie zu erwarten, erwiesen sich dogmatische Haltungen von Supervisoren oder überhaupt Bewertungen mit „richtig“ oder „falsch“ als hinderlich. Sie empfehlen, dass sich die Supervisoren persönlich zeigen, möglichst mit eigenen Beispielen, also transparent sein sollen, sich gleichsam „beim Denken zuschauen“ lassen.

Wie schon Cord Benecke und Rainer Krause empfehlen auch sie die häufigere Verwendung von Audio- und Videoaufnahmen im Supervisionsprozess. Damit könne es besser gelingen, die überaus wichtige Reflexion der Gegenübertragung, aber auch der Eigenübertragung auf den Patienten zu untersuchen. Sie regen an, Weiterbildungsteilnehmern die Mitwirkung an Intervisionsgruppen zu ermöglichen, ohne die Gegenwart eines Lehranalytikers, der in seiner Rolle ja die latent konflikthaften Aufgaben von Förderung einerseits und Kontrolle andererseits balancieren muss.

Peter Döring und Heidi Möller betonen, dass eine psychoanalytische Kompetenz nicht regelmäßig mit einer supervisorischen Kompetenz einhergeht. So hoch oft die Hürden vor einer Ernennung von Lehranalytikern liegen, so wenig werden die Fähigkeiten zukünftiger Supervisoren gefördert und geprüft. Hier könnte eine Aufgabe für die Zukunft liegen.

Schließlich erinnern Döring und Möller an das „Budapester Modell“, das weithin in Vergessenheit geraten ist und wohl auch wenig praktiziert wird: Hiernach übernimmt der Lehranalytiker auch die Supervision der ersten Behandlungsfälle seines Lehranalysanden. Wie zu erwarten, löste dieses Modell in der Diskussion zwiespältige Reaktionen aus, denn einerseits liegen seine Chancen vielleicht darin, dass der Lehranalytiker sehr hilfreich sein kann, wenn sein Lehranalysand sich in eine Beziehung zum Patienten verstrickt. Aber andererseits gerät er als Supervisor doch in einen Konflikt zwischen dem einen Motiv, seinen Analysanden zu fördern und ihm zu helfen, und dem anderen, ihn zu bewerten und zu überwachen.

Timo Storck, Michael B. Buchholz, Reinhard Lindner und Horst Kächele schreibenFootnote 1 über Perspektiven psychodynamischer Forschung unter den Bedingungen einer sich aktuell verändernden berufspolitischen Lage: Sowohl die universitäre Ausbildung als auch die sich anschließende Weiterbildung zum Psychotherapeuten werden neue Wege beschreiten, mit kompetenzorientierten Lernzielen und der Vermittlung breit gestreuter Praxiskompetenzen. Diese Neuausrichtung stellt die Forschung, so die Autoren, vor neue Aufgaben: Forschung kann sich nicht mehr damit begnügen, die Anwendung psychotherapeutischer Methoden, ihre Wirksamkeit und den Einfluss einzelner Faktoren (zum Beispiel spezifisch: die gewählte Methode oder unspezifisch: die therapeutische Beziehung) zu messen, sondern wesentliche Vorfragen zu beantworten: Was geschieht eigentlich im psychotherapeutischen Prozess? Welches sind die praktischen Kompetenzen, die ein Psychotherapeut vermitteln will? Welche Vorannahmen und welche Konzepte leiten ihn, und wie verständigt er sich mit seinem Patienten über die notwendigen Veränderungsprozesse?

Die Autoren werben dafür, die alte Unterscheidung zwischen „qualitativer“ und „quantitativer“ Forschung zu überwinden. Zwar stand der Einzelfall immer schon im Zentrum psychodynamischer Forschung, und wir brauchen in der Praxis hermeneutische Methoden, um die oft überraschenden, immer vieldeutigen Äußerungen der Patienten verstehen zu können. Aber auch die strengste Einzelfallorientierung muss sich der Verallgemeinerung öffnen und in „paradigmatische Modelle“ überführt werden. Auf der anderen Seite haben selbst die Anhänger einer streng quantitativen Forschung etwa aus dem Lager der Verhaltenstherapie längst akzeptiert, dass auch ihre Methoden die Verstehenskompetenz des Therapeuten einschließen.

Drei Schwerpunkte setzen die Autoren: Sie stellen die „verstehende Typenbildung“ vor und beschreiben, wie es gelingen kann, aus dem Verständnis eines Einzelfalls schrittweise etwas Typisches zu rekonstruieren und dann im zweiten Schritt Gruppen ähnlicher Fälle zu thematischen Clustern (Prototypen) zusammenzustellen. Dieser Prozess der Fallrekonstruktion und Definition von Idealtypen findet selbstverständlich vor einem theoretischen Hintergrund statt, vermeidet aber Fachbegriffe und bleibt so erlebnisnah. Die verstehende Typenbildung bietet sich dort an, wo wir im psychotherapeutischen Prozess komplexe Erscheinungen vorfinden, die sich der Zergliederung in Einzelfaktoren entziehen.

In ihrem zweiten Schwerpunkt zeigen die Autoren, wie wir konzeptuelle Forschung heute verstehen können: Nicht mehr nur historisch als Erzählung der Konzeptgeschichte, sondern als Untersuchung, wie Konzepte gebraucht werden und wie sie untereinander im Zusammenhang stehen. Dabei bliebe noch viel zu tun: zu untersuchen, wie sehr ähnliche Phänomene in unterschiedlichen Termini erfasst werden und wie umgekehrt derselbe Terminus in den Verfahren unterschiedlich verwendet wird. Zweifellos wird sich die Konzeptforschung zukünftig mit den Mikroprozessen in den therapeutischen Dialogen befassen.

In ihrem dritten Teil diskutieren die Autoren die Möglichkeiten, die Konversationsanalyse für die Prozessforschung zu nutzen. Während den Psychoanalytikern immer schon klar war, dass Patienten und Therapeuten ihre therapeutische Beziehung durch kommunikative Prozesse, durch Sprechen (und Schweigen) und durch die Prosodie gestalten, hat diese Einsicht in jüngerer Zeit, mit dem Erstarken der intersubjektiven Psychoanalyse, noch an Gewicht gewonnen. Je genauer die Konversationsanalyse therapeutische Szenen analysiert und erfassen kann, in welchen „Sequenzen“ und mit welchen „Interjektionen“ sich die Beteiligten darüber informieren, wie sie ihre Beziehung sehen (und wechselseitig kommentieren), desto deutlicher erscheint uns die Feinfühligkeit, mit der sie aufeinander reagieren und auch in der Lage sind, nach einer „Rupture“-Episode eine „Repair“-Szene zu gestalten. Im Vergleich zu dieser Analysemethode erscheint das herkömmliche Verfahren der Falldarstellungen mit „Sitzungsprotokollen“ recht oberflächlich; es bedarf zumindest der Anreicherung durch Audio- oder Videoaufzeichnungen.

Die vielfältigen Anregungen des Symposions zur Zukunft der psychodynamischen Ausbildung und Forschung konnten in diesem Themenheft nur zum Teil wiedergegeben werden. Die AG Psychodynamischer Professorinnen und Professoren hat sich aber zur Aufgabe gemacht, im Jahr 2020 weiter an diesen Konzepten zu arbeiten und einen Entwurf auf ihrem nächsten Symposion am 09. und 10. 10.2020 zu diskutieren und zu verabschieden.