Die unbewusste, verdrängte Dynamik des Virus

Doch die lebendigsten und beweglichsten Feinde lauern im Innern. Es sind die alten Viren, verdeckt im Schatten der Immunität, die ewigen Eindringlinge – hat es sie doch immer gegeben. (Nancy 2000, S. 35)

Ich beginne – vielleicht ungewöhnlich – mit dem, was der Text nicht bieten wird: Mein Thema ist nicht die virale Infektion und deren psychischen Auswirkungen, sondern die innere Verfasstheit und die besonderen Vorstellungen, die das Virus auslöst. Und dies im Hinblick auf die Metapher Virus und deren Verwendung. Im engen Sinne meine ich damit die Fantasie über den bedrohlichen inneren Fremdkörper in Verbindung zur Viruspandemie. Das Coronavirus und damit die „coronavirus disease 2019“ (COVID-19) fordern die Psychoanalyse heraus, sich mit der unbewussten, verdrängten Dynamik des Virus und vor allem mit der Virusmetapher zu beschäftigen. Das Virus ist ein komplexes begriffliches Gefüge, dessen Wirkung weit über den biologischen Erreger hinausgeht. Das Virus wird als eindringendes Element in die Zelle, den Einzelkörper und den kollektiven Körper verstanden; es ist das bedrohlich Fremde schlechthin und gleichzeitig Synonym für höchste Flexibilität.

Bislang gab es in der Geschichte zwei mit hoher Wahrscheinlichkeit tödlich verlaufende Virusepidemien bzw. -pandemien:

  1. 1.

    das Rabies-Virus, welches Tollwut, auch Hundswut oder Wutkrankheit genannt, auslöst und

  2. 2.

    das Retrovirus (HIV) das AIDS auslöst.

Und aktuell kam das Coronavirus SARS-CoV‑2 hinzu, welches COVID-19, eine potenziell tödlich verlaufende Atemwegserkrankung, zur Folge haben kann. Epidemische Krankheiten sind schon immer ein übliches Bild für gesellschaftliche Unordnung und werden auch als Erklärung für deren Erscheinen genutzt: Die Ödipus-Sage und die Pest über Theben sind prominente historisches Beispiele und verweisen auf eine transgenerationale familiäre (sexuelle) Unordnung.Footnote 1

Die panische Angst vor Tollwut im 19. Jahrhundert wurde zum Beispiel durch Fantasien gespeist wie, dass die Ansteckung aus dem Menschen ein rasendes Tier, eine Bestie – wie einen Werwolf – mache und in ihm „unbeherrschbare, geschlechtliche und gotteslästerliche Gelüste entfessele, nicht aber der Umstand, dass die Krankheit stets tödlich verlief …“ (Sontag 2012, S. 105).

Die bedrohlichsten Krankheiten sind diejenigen, die den Körper entfremden, wenn sich ein unheimlicher und unsichtbarer Fremdkörper im eigenen Körper befindet. Das Virus mit seinen Übertragungswegen, die zum Virus gehörende Fremdheit im Eigenen und die dazu assoziierten Symptome speisen Fantasien und archaische Abwehrformationen in der Innen- und Außenwelt. Dies begründet eine psychoanalytische Untersuchung.

„Like a virus needs a body …“(Virus, Björk 2010)

Mit dem Liebeslied Virus aus dem Album Biophilia (2011) erforscht die isländische Sängerin Björk tragische Beziehungen, wie die zwischen einem Virus und einer Zelle, wie Björk in einem Interview erklärte: „Es ist eine Art Liebesgeschichte zwischen einem Virus und einer Zelle. Und natürlich liebt das Virus die Zelle so sehr, dass es sie zerstört“ (Cragg 2011). Virus erzählt von symbiotischen Beziehungen, und das Virus dient als Metapher für eine parasitäre Liebe. Björk entwickelte zum Musikstück Virus eine „Virus-App“. Es ist ein Videospiel, bei dem ein Virus versucht, gesunde Zellen zu infizieren. Der BenutzerFootnote 2 kann die Zellen kontrollieren und Kerne in die gesunden Zellen einfügen. Er kann auch versuchen, die Infektion zu stoppen, wenn das Virus jedoch besiegt ist, wird das Lied beendet. Beim ersten Hören mag Virus wie ein langsamer Walzer der Liebenden klingen, Björks Text dagegen beschreibt die tödlichen Abhängigkeiten zwischen den Arten in der Natur. In der Virus-App greifen infektiöse Erreger eine Zelle an und vermehren sich schneller, als sie zerstört werden können.

Die erste Zeile des Liedes „Like a virus needs a body“ hat mich inspiriert, der Verbindung zwischen der untrennbaren Symbiose zwischen dem unbekannten Virus und dem unheimlichen Körper, dem Fremdkörper im Eigenen, nachzugehen.

Viren sind relativ einfach aufgebaut. Sie bestehen aus einem oder mehreren Molekülen und sind manchmal von einer Eiweißhülle umgeben. Die Moleküle enthalten das Erbgut – also die DNA oder RNA – mit den Informationen zu ihrer Vermehrung. Anders als Bakterien bestehen Viren weder aus einer eigene Zelle, noch haben sie einen eigenen Stoffwechsel. Sie haben keine eigene Energiegewinnung und keine Möglichkeit zur Proteinsynthese. Deshalb sind sie, streng genommen, auch keine Lebewesen. Viren dringen in tierische, pflanzliche oder menschliche Zellen ein. Sie verwenden diese lebenden Zellen als Wirtszellen. Als Wirtszellen können zum Beispiel rote und weiße Blutkörperchen dienen, aber auch Leberzellen, Muskelzellen und andere. Das Virus kann sich in der Umgebung zum Teil sehr lange halten und ansteckend bleiben. Wenn Viren jedoch keine neue Wirtszelle finden, sterben sie über kurz oder lang ab. Um sich zu vermehren, benötigen Viren ebenfalls Wirtszellen. Sobald die Erreger in unseren Körper eindringen – wir uns also angesteckt haben – beginnen die Viren, sich zu vermehren. Das Virus dockt an die Wirtszelle an und lässt seine benötigten Bausteine von ihr produzieren. Ist das Erbgut des Virus erst einmal freigesetzt, ist die Wirtszelle gezwungen, zahlreiche Viruspartikel herzustellen und zu neuen Viren zusammenzubauen. Danach stirbt die Wirtszelle ab, und es werden Tausende Viren freigesetzt, die sich sofort auf die Suche nach einer neuen Wirtszelle machen. Viren transformieren Zellen und mutieren weiter; ein Virus stellt neue Kopien von sich selbst her.Footnote 3

Virus-Metapher I: „Viren breiten sich aus …“

Hoffstadt untersucht in seinem Aufsatz „Die Pest der Postmoderne“ virale Metaphern als Selbstinszenierung postmodernen Denkens: „Viren … gehören seit ihrer Entdeckung und Sichtbarmachung zu den interessantesten Fremdkörpern im Menschen“ (S. 613). Viren bebildern Wesen von unklarem Status, nicht lebendig und nicht tot: „kryptische Identifikation“ (Torok 1968; Abraham 1978) „Leiche in sich selbst“ (Kogan 1990a), „seelisch tot“ (Faimberg 1987), „lebendig tot“ (Derrida 1976), „wie im Nebel, innerlich gefroren“ (Skogstad 1990), ein „obskurer hartnäckiger Gast des Ichs“ (Cournut 1988)Footnote 4. Das Virus ist in Anlehnung an Hirsch (1995) das unassimilierte Introjekt mit dem Charakter der fremdkörperartigen Abkapselung (S. 125).

Die amerikanische Schriftstellerin Sontag untersuchte die Krankheit als Metapher – zunächst Krebs und Tuberkulose, dann auch Aids. Krebs ist nach der Autorin eine Krankheit des zumeist langsamen, abnormen und stetigen hinterhältigen Wachsens. Krebs ist eine Krankheit des Raumes: Krebs breitet sich aus, wuchert oder dehnt sich aus. Eine Virusinfektion dagegen ist eine Krankheit in Stadien der zunächst unscheinbaren Symptome (Fieber, Husten, Erschöpfung), die sich im Inneren fluide und unsichtbar ausbreitet. Das Bild der Ausbreitung der Virusinfektion im Inneren ist eine sich in der Länge ausbreitende Bewegung. Das Virus geht im eigenen Körper spazieren wie ein Reisender auf einer Fahrt durch die innere Köperlandschaft. Dem Subjekt wird gewahr, dass man einen „undurchschaubaren Körper“ (Sontag 2012, S. 15) hat. Dabei betont Sontag, dass der Krebs (und nun auch COVID-19) im Gegensatz zu Aids entsexualisiert ist. Das Virus wird mit einer rasanten Bewegung, einem inneren und äußeren Ausbreiten durch die Flüssigkeitsbahnen im Körper beschrieben. Es ist eine Metapher für eine bösartige (Körper‑)Bewegung, die archaische Bilder und Fantasien hervorruft. Neben dem Aufkommen von animistischen Vorstellungen und Erklärungsversuchen beginnen paranoische Vorstellungen zu blühen, wie zum Beispiel Verschwörungstheorien. Verschwörungsvorstellungen lassen sich trefflich übersetzen in Metaphern von „unversöhnlichen, heimtückischen, unendlich geduldigen Viren“ (Sontag 2012, S. 129).

Virus-Metapher II: „sich einen Virus einfangen …“

In Grimms Wörterbuch lassen sich zum Wort einfangen unter anderem folgende Redewendungen finden: die brust fängt den athem ein und einen Fliehenden (wieder) fangen.

Sich etwas einfangen ist zumeist negativ konnotiert: zum Beispiel sich eine Geschlechtskrankheit einfangen. Das Einfangen evoziert die Frage nach Kontrollverlust und der Schuld, und wie das Subjekt etwas von außen ins Innere einfängt. Übersetzt in die psychoanalytische Sprache, wie das Subjekt etwas von außen ins Innere introjiziert. Das Virus breitet sich im Inneren aus und wird damit zur Metapher der Erweiterung im Inneren; das Virus wird von außen eingefangen – man fängt sich was von außen ein, wenn man unvorsichtig war – wird zur Metapher zum paranoischen Fremden im Außen.

Introjektion bezeichnet die psychische Bewegung der Aufnahme des Fremden von außen nach innen und bietet die Grundlage der Angst vor dem verfolgenden Fremdkörper im Inneren; Projektion bezeichnet die psychische Bewegung des Ausstoßens des Fremden von innen nach außen und bietet die Grundlage der Angst vor dem verfolgenden Fremdkörper im Außen. In der kleinianischen Psychoanalyse sind Projektion und Introjektion die zentralen frühen Spaltungsmechanismen. Das Introjekt kann sich wie ein Virus, wie ein Fremdkörper im Inneren vermehren und gesunde Anteile zersetzen und zerstören, so schreibt Hirsch (1995): „Das Über-Ich kann übrigens die entsprechende Qualität eines Fremdkörpers annehmen, wenn es nicht durch Identifikation integriert werden kann, und dann einen feindlichen, verfolgenden Charakter haben. Ein solches Introjekt wird das Ich nicht bereichern …“ (Hirsch 1995, S. 126). Das Paranoische wirkt im Innen und im Außen, hervorgerufen durch den körperlichen Kontrollverlust. Ferenczi (1909) verwendet die Raummetapher der Verdünnung, der Erweiterung und der Schrumpfung, um den Unterschied zwischen dem Paranoiker und dem Neurotiker entlang der Introjektion zu beschreiben. Er schreibt: „Während der Paranoische die unlustvoll gewordenen Regungen aus dem Ich hinausdrängt, hilft sich der Neurotiker auf die Art, dass er einen möglichst großen Teil der Außenwelt in das Ich aufnimmt und zum Gegenstand unbewusster Phantasien macht. Es ist das eine Art Verdünnungsprozeß …“ (S. 19, Hervorhebung des Verfassers). Und: „Der Psychoneurotiker leidet an Erweiterung, der Paranoische an Schrumpfung des Ichs. … Erst später lernt es die tückischen Dinge, die seinem Willen nicht gehorchen, als Außenwelt vom Ich … zu sondern. Das wäre der erste Projektionsvorgang, die Urprojektion …“ (Ferenczi 1909, S. 19 f.).

Virus-Metapher III: der unheimliche Eindringling

Eindringen bedeutet sich in die Tiefe begeben, hineingehen und hineinpressen. Diese Virusmetapher beschreibt eine Bewegung von außen nach innen. Das aggressive Eindringen und der unheimliche Eindringling verbinden sich zu einem symbiotischen Paar, sowie das Virus den Körper braucht, um zu (über)leben.

Die Virusmetapher des unheimlichen Eindringlings erweist sich als äußerst gewinnbringend. „Das Unheimliche“ ist eine 1919 verfasste kulturtheoretische Studie Freuds. Unheimlich nennt Freud (1919h, S. 254), was im Verborgenen bleiben sollte und aus dem Verborgenen hervorgetreten ist. Er schreibt: „Erstens … daß dies Ängstliche etwas wiederkehrendes Verdrängtes ist. Diese Art des Ängstlichen wäre eben das Unheimliche …. Zweitens … wenn dies wirklich die geheime Natur des Unheimlichen ist, so verstehen wir, dass der Sprachgebrauch das Heimliche in seinen Gegensatz, das Unheimliche, übergehen lässt, denn dies Unheimliche ist wirklich nichts Neues oder Fremdes, sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist“. Das Unheimliche verweist auf eine Ebene des seelisch Verdrängten, die, gegen die Absichten des Bewusstseins, „hervorgetreten“ ist und – wesentlich – dadurch Angst auslöst. Der Terminus des Unheimlichen bezeichnet das „Nicht-Heimliche“, das Angst erzeugt, weil es einem Verdrängten (individuell) oder einem Überwundenen (kulturell) entspringt. Unheimlich wirkt auf uns, was an Reste im Unbewussten erinnert und im Stadium der Latenz bedrohlich erscheint; unheimlich ist aber auch, was auf archaische Stufen unserer Kultur verweist.

Kristeva (1990, S. 117) schreibt in ihrem Buch Fremde sind wir uns selbst: „… in der faszinierten Ablehnung, die der Fremde in uns hervorruft, steckt ein Moment jenes Unheimlichen …. Das Fremde ist in uns selbst. Und wenn wir vor dem Fremden fliehen oder ihn bekämpfen, kämpfen wir gegen unser Unbewusstes – dieses ‚Uneigene‘ unseres nicht möglichen ‚Eigenen‘ …“.

Der französische Philosoph Nancy bringt den Begriff des Fremden und des Eindringlings in den Bereich der Medizin ein; exzeptionell ist der Text aufgrund seiner Bezugnahme auf den Körper und den Fremdkörper (Nancy 2000, 2010). Der Fremde wird von ihm als Eindringling bzw. das Fremde mit dem Phänomen und dem Prozess des Eindringens bezeichnet. Nancy identifiziert der/die/das Fremde mit der Figur des Eindringlings, „der von außen jenen Raum betritt, der mir zu gehören scheint“ (zitiert nach Müller-Funk 2016, S. 240). Die Raummetapher in der Beschreibung des eindringenden Virus in den Körper – übrigens auch von Ferenczi im Begriff der Verdünnung, Erweiterung und Schrumpfung verwendet – fasst Müller-Funk (2016, S. 241) pointiert zusammen: „Der Fremde, der Eindringling also, betritt, gleichsam unbefugt den mir zugehörigen Raum, und zwar gewaltsam, überraschend und mit List“. Übrigens wie die Angst im Unheimlichen über Täuschung, Hinterhalt und Tücke sich ins Ich einschleicht. Es ist das Eigene, das einem als Fremdes, Feindliches und Eindringliches gegenübertritt. Und: „Es stellt sich die Frage, wie unter Berücksichtigung dieser tief verwurzelten Fremdheit überhaupt so etwas wie eine alltägliche Vertrautheit mit dem eigenen Körper entsteht“ (Blüml 2017, S. 111).

Das Virus ist etwas, das in die eigene Körperzelle eindringt. Dieses spezifische Eindringen in den eigenen Körper evoziert eine archaische Angst mit den frühen Abwehrmechanismen der Spaltung zwischen Introjektion und Projektion. Die archaische Angst speist sich aus dem Phänomen, dass das kulturell Fremde, so Nancy, ein Prädikat hat (zum Beispiel schwarz, homosexuell) und das prädikatlos Andere (das – geschlechtslose – Virus) in sich unsichtbar, unheimlich, diffus und fluide ist. Das Subjekt ist von Feinden im Inneren (Viren) durchsetzt. Diese inneren Feinde sollen über Messen der Körpertemperatur erkannt werden. Die Kontrolle erfolgt über Social Distancing, Quarantäne, selbstgewählte Isolation und staatlich angeordnete Bewegungsbegrenzungen im öffentlichen Raum.

Die Raumfrage im Kontext von Fremdheit spielt meines Erachtens eine große Rolle: die fremde Kultur, die in den vertrauten kulturellen Raum eindringt (in den imaginären Volkskörper), und das Virus, welches in den vertrauten Körperraum eindringt.

Virus-Metapher IV: der eigene Fremdkörper

Freud sprach einmal vom Unbewussten als dem „inneren Ausland“ – er hätte es auch die „eigene Fremde“ nennen können. (Erdheim 2002, S. 21)

In Das klinische Tagebuch beschreibt Ferenczi (2013 [1932], S. 91) eine Patientin: „Sie [Anmerkung: die Patientin] fühlt gelegentlich, besonders wenn sie aggressiv, hart, sarkastisch etc. ist, dass etwas Fremdes aus ihr spricht, in dem sie sich nachher nicht wiedererkennt. Das bösartige Fremde entpuppt sich, zum Beispiel heute, als die bösartige, unbeherrschte, aggressive, leidenschaftliche, … Mutter. … Als Therapie fordert sie: die Fragmente der eingedrungenen Persönlichkeit [Anmerkung: der Fremdkörper] müssen von mir Stück für Stück entfernt werden, zugleich muss sie versuchen, die explodierenden Teile der eigenen Person in die Persönlichkeit zurückzupressen“.

Für Ferenczi ist das bösartig Fremde etwas Vertrautes, ein vertrauter Fremdkörper. Das bösartige Fremde ist laut Hirsch „ein Gebilde, das als Fremdkörper wirkt und vom Erleben, Denken, Phantasieren und Sprechen weitgehend abgetrennt ist. … Der Fremdkörper steuert das Erleben und Verhalten … wie ein fremdes Programm seinen Automaten …“ (Hirsch 1995, S. 124). In meinen Worten: wie ein Virus nach dem Eindringen das Immunsystem steuert.

Das Virus wirkt wie eine innere Objektvorstellung und evoziert sowohl Abwehrkräfte als auch Immunität. Die Mythen über das Virus wirken ähnlich der Fantasie über ein Objekt, welches zunächst ein bedrohliches Objekt ist. Für Ferenczi ist dies nicht nur eine Bedrohung, sondern birgt auch die Möglichkeit einer Aneignung: Introjektion als ein assimilierender Prozess, der das von außen Aufgenommene modifiziert und das Ich bereichern kann. Falls dies nicht gelingt, bleibt ein „schwer kenntliche(r) Rest“ (Freud 1923b, S. 279, Fußnote).

Das Virus verbreitet sich global im Körper des Subjekts. Das extrem Bedrohliche ist die Gleichzeitigkeit: Das Subjekt geht an einer inneren (Virus im individuellen Körper) und einer äußeren Unordnung (Virus im gesellschaftlichen Körper) zugrunde. Das Virus wird nach Sontag (2012, S. 73) zu einer geeigneten Metapher für Paranoiker.

Im Buchdeckel zum Sammelband Der Fremdkörper (Hoffstadt et al. 2008) fassen die Autoren zusammen: „Fremdkörper dringen in den Körper ein, bewegen sich in ihm, nisten sich ein. Ob natürlich oder künstlich, zerstören sie den Körper, erhalten aber auch seine Funktionen, transformieren ihn gar und erweitern seine Fähigkeiten. …, oft mit viralen Strategien. Fremdkörper sind dem Subjekt Objekte. … Je nach Perspektive der Deutung kann das Fremde zum Eigenen werden und das Eigene zum Fremden.“

„Coronavirus disease 2019“

Wenn man die Immunität schwächt, schwächt man auch die Identität. (Nancy 2000, S. 35)

Die SARS-CoV-2-Infektion gilt als eine Invasion körperfremder Organismen und befällt das zentrale Organ der Lunge und damit der Atmung. Dem Organ der Enge und Weite, des Ein- und Ausatmens. Die Metapher für die Aneignung der Welt und den Austausch mit der Welt. Wie bei der Tuberkulose steht es in engem Zusammenhang mit der Metaphorik Atem und Leben, die an die Lunge geknüpft ist. Sontag (2012, S. 31) erkennt in der Krankheit Tuberkulose eine Metapher für Exil, für ein Leben, das hauptsächlich aus Reisen bestand. Und weiter: „Wie Freuds mangelökonomische Theorie der Triebe sind die Phantasien über Tuberkulose, die im letzten Jahrhundert entstanden sind … ein Nachhall der mit der frühkapitalistischen Akkumulation verbundenen Verhaltensweisen. Man hat eine begrenzte Energiemenge, die in angemessener Weise verbraucht werden muß“ (Sontag 2012, S. 55).

Das Virus beschreibt den Feind im Außen, der die Krankheit verursacht, einen Infektionsträger, der von außen kommt. „Der Eindringling ist sehr, sehr klein … Späher des körpereigenen Immunsystems – große Zellen, die man Makrophagen nennt – wittern die Gegenwart des winzigen Fremden und alarmieren unverzüglich das Immunsystem“ (Sontag 2012, S. 88). Das ist die Sprache der politischen Paranoia mit ihrem typischen Misstrauen gegen eine pluralistische Welt, so Sontag. Es ist der virale Angriff, der das Subjekt ängstigt, dass die Kontamination eine bleibende ist und schuldhaft andere ansteckt. Die Ansteckung mit dem Virus ist auch eine psychische Infektion bzw. Ansteckung.

In Die Traumdeutung spricht Freud (1900a, S. 155 f.) im Rahmen der hysterischen Symptombildung unter anderem: „Die anderen haben ihn [Anmerkung des Verfassers: den hysterischen Anfall] gesehen und nachgemacht: das ist psychische Infektion“. Im Falle der Viruspandemie ist die psychische Ansteckung eine paranoische: introjektiv, projektiv, verleugnend, d. h. frühe Spaltungsmechanismen werden aktiviert.

Eine weitere zentrale Besonderheit des Virus ist: Der virale Feind nistet sich im Körper ein, er ist ein Schläfer oder ein Gefährder im Körper des Subjekts.Footnote 5 Es ist eine Frage der Zeit, bis „… irgend etwas den schlummernden Feind aufweckt und die verräterischen Symptome auftreten“ (Sontag 2012, S. 91). Das Aufwecken ist bei COVID-19 mit einem riskanten, asexuellen zwischenmenschlichen Kontakt verbunden. Damit steht die Schuld aufgrund einer Entsolidarisierung mit den sogenannten Risikogruppen im Zentrum. Mit COVID-19 wird eine neue Identität geschaffen: „Ich bin Risikopatient!“ oder „Ich gehöre zur Risikogruppe!“ Die Krankheit beleuchtet eine Identität, die zuvor vielleicht verheimlicht wurde. Das Coronavirus und die Erkrankung COVID-19 sind eine nichtsichtbare Infektion, es ist auf der Körperoberfläche nicht erkennbar, man kann es nicht sehen, hören oder schmecken. Es ist im Körperinnern ohne spezifische Zeichen im Außen. Krankheitszeichen sind Husten und Fieber. Virusinfektion und Immunität sind miteinander verschmolzen und verändern den Körper und die Psyche des Subjekts, wie Nancy (2000, S. 35) pointiert zusammenfasst: „Wenn man die Immunität schwächt, schwächt man auch die Identität.“

Mit dem filmischen Essay Global Viral. Die Virus-Metapher gehen die Filmemacher Dewald und Lammert (2010) nicht nur auf die medizinische Relevanz des Virus ein, sondern betrachten auch die Verwendung des Wortes im Bereich der Informationstechnologie und der Sprachphilosophie. Der Film nähert sich dem Virus und seinen Metaphern aus ganz unterschiedlichen Richtungen an: Ausgehend vom 14. Jahrhundert, also der Zeit der Großen Pest, bis zu biologischen Kampfstoffen der Jetztzeit oder den viralen Techniken in der Computertechnologie bis hin zu Philosophie und Sprachforschung. Es werden Verweise zu viral ansteckenden Ideen, Gedanken und Worten – in Religion, Werbung und den Medien gezogen.

Die Filmemacher gehen der Frage nach, warum die Virusmetapher heute einen solchen Auftrieb erfährt, und wie die Rede von Ansteckung, Infektion, Fremdkörpern und Schläfern zu politischen und gesellschaftlichen Ausgrenzungsmechanismen führt.

So entstehen äußerst anregende Querverbindungen, Assoziationsbrücken oder Strukturanalogien, beispielsweise, wenn im Film einer der Mediziner redet, wie auch ein IT-Experte reden könnte: „Ein Übermaß an Sicherheit bringt Bedrohung hervor. Ein Übermaß an Gesundheit Viren. Vollendete Strukturen kehren sich gegen sich selbst“.

Zentrale Aussage des Films ist, dass die Wahrnehmung von Krankheiten immer gesellschaftlicher Grundannahmen unterliegt und abhängig von sich wandelnden wissenschaftlichen Wahrheits- und Wirklichkeitsauffassungen ist. Auch in Zeiten einer Viruspandemie gibt es keinen allgemeingültigen Wahrheitsbegriff, der Auskunft darüber gibt, was eine Krankheit tatsächlich ist.

Die Virusmetapher erlebte nach dem 11. September 2001 eine politisch-sprachliche Ausweitung. Mit der Zerstörung des World Trade Center erfanden Politiker den Begriff vom „Virus des Terrorismus“. Eine von vielen Varianten für eine Virusmetapher, so der Philosoph Geier im Film Global Viral: „Man trägt also ein Wort aus einem Bereich, wo es eine eigentliche Bedeutung hat, in einen anderen Bereich hinüber“. Eine Übertragung, wie sich Viren übertragen. Viren existieren seit 30 bis 40 Millionen Jahren und sind in der Evolution erfolgreicher als die Saurier, sagt Kurtz, der frühere Leiter des für Epidemien zuständigen Robert Koch-Instituts (Dewald und Lammert 2010), und Kurtz erklärt die Viren – jenseits jeglicher Metapher – zum Hauptgegner der Menschen in der Evolution. Dieser bedrohliche Fremdkörper, der Angreifer, ist seinerseits höchst flexibel, kriegerisch, absichtsvoll; ein Ding, ein Element, ein Wesen; nicht lebendig, nicht tot, das erst beim Andocken an den Wirt lebendig wird und höchst effektiv und zerstörerisch wirken kann. Doch, was bedrohliche Fremdkörper sind, entscheidet sich zu allen, auch in unseren globalen Zeiten, wo sich Grenzen immer weiter auflösen, auch in den Medien und in unseren Köpfen (Peschke 2008).

Wenn heute von einem Virus gesprochen wird, meinen wir vor allem stets das eine: einen Eindringling, der von einem Organismus, einem Körper Besitz ergreift, um dort eine symbiotische Beziehung mit dem Wirt einzugehen. Eine Analogie zur Besetzung des Ich mit Über-Ich- oder Es-Anteilen. Dass das Virus zum Synonym einer allgegenwärtigen Bedrohung geworden ist, liegt auch an den Eigenschaften, die diesem Eindringling zugeschrieben werden: bedrohlich und fremd zu sein. Außerhalb eines Körpers nicht fortpflanzungsfähig, verfügt das Virus über eine geradezu unheimliche Intelligenz und Wandlungsfähigkeit, um sein Bestehen und die Vermehrung und Verbreitung zu sichern. Es ist eine unsichtbare Bedrohung, das absolute, das un(be)greifbare Böse. Viren sind gefährlicher als Terroristen, sagt einer der Virologen in Global Viral. Zumeist sind Viren böse: Sie transportieren Bedrohungen, stecken an, befallen die Menschen. Viren gibt es auch in der Sprache. Das Sprechen vom und über das Virus verbreitet sich selbst viral.

Das Virus, der Fremdkörper und der innere Verfolger

Wir haben von diesem Material ausgesagt, es benehme sich wie ein Fremdkörper; die Therapie wirke auch wie die Entfernung eines Fremdkörpers aus dem lebenden Gewebe. (Breuer und Freud 1895d, S. 295)

Breuer und Freud (1895d) fassten die Erinnerung an das Trauma als einen Fremdkörper im psychischen Gewebe auf, der dort seine Wirkung so lange entfaltet, bis er durch ein affektives Erinnern und die Abreaktion des eingeklemmten Affekts seine Fremdkörperstruktur verliert. „Ich will an das so gewonnene Bild von der Organisation des pathogenen Materials noch die eine oder die andere Bemerkung anknüpfen. Wir haben von diesem Material ausgesagt, es benehme sich wie ein Fremdkörper; die Therapie wirke auch wie die Entfernung eines Fremdkörpers aus dem lebenden Gewebe. … Ein Fremdkörper geht keinerlei Verbindung mit den ihn umlagernden Gewebsschichten ein, obwohl er dieselben verändert, zur reaktiven Entzündung nötigt“ (Breuer und Freud 1895d, S. 85). An anderer Stelle korrigiert er sich: „Die pathogene Organisation verhält sich nicht eigentlich wie ein Fremdkörper, sondern weit eher wie ein Infiltrat. Als das Infiltrierende muß in diesem Gleichnisse der Widerstand genommen werden“ (Breuer und Freud 1895d, S. 295).

Das Trauma bzw. als traumatisch wirksam wird dann als eine Erinnerung verstanden, die als innerer Fremdkörper wirkt und innere Instanzen besetzt. Die Bezeichnung Fremdkörper verweist darauf, dass etwas Äußeres, anderes in die psychische Struktur aufgenommen wird, ohne dort jedoch assimiliert werden zu können. Die rätselhaften Botschaften wirken wie ein „psychischer Fremdkörper“ (Laplanche 2011), die erst nachträglich integriert, eingeschrieben und übersetzt werden kann, wenn die hierfür nötigen Bedingungen vorliegen. Fehlte diese, so begünstige dies die Entwicklung pathologischer Strukturen.

Die britische Psychoanalytikerin und Kulturanthropologin Perelberg (2017, S. 146) beschreibt den inneren Fremdkörper als das, was in der traumatischen Erinnerung „nicht durch Repräsentation absorbiert werden kann und der Symbolisierung unzugänglich ist“. Sie verbindet dies mit Laplanches Theorie der Urverführung, in der „der Erwachsene dem Kind sowohl non-verbale, verbale als auch verhaltensvermittelte Signifikanten unterbreitet, die von unbewussten sexuellen Bedeutungen durchdrungen sind“ (Perelberg 2017, S. 158 f.). Diese rätselhaften Botschaften werden so zu „unverdaulichen Fremdkörpern“, die nicht symbolisiert werden können. Das Virus breitet sich als innerer Verfolger aus und wird von einer äußeren (ebenso) verfolgenden Gestalt empfangen. Das Virus ist sowohl ein äußerer als auch ein innerer unsichtbarer Verfolger. Dies erklärt die destruktive und paranoische Komponente der Viruspandemie und die Aktivierung archaischer Ängste, die über frühe Abwehrmechanismen wie Verleugnung, Spaltung im Sinne von Introjektion und Projektion abgewehrt werden. Die Verfolgung selbst ist Teil des Viralen: Das Virus ist die Gestalt des Verfolgers und gleichzeitig die Verfolgung selbst. Segal (2002, S. 149) erwähnt, dass der innere Verfolger „letzten Endes gleichbedeutend mit den eigenen Trieben“ sei. Dass die von Geburt an bestehende Angst vor Verfolgung durch das böse Objekt und der damit einhergehende, gegen dieses Objekt gerichtete Hass als eine erste Manifestation des Todestriebes verstanden werden kann, hat Klein (1983a, S. 136) deutlich gemacht. Das daraus entstehende Grundmuster einer bösen Objektbeziehung hat sie so erläutert: „Meiner Meinung nach entsteht Angst aus der Aktivität des Todestriebes innerhalb des Organismus; sie wird als Furcht vor Vernichtung (Tod) in der Form von Verfolgungsangst empfunden. Die Furcht vor dem Zerstörungstrieb scheint sich sofort an ein Objekt zu binden oder wird vielmehr als Furcht vor einem unkontrollierbaren, überwältigenden Objekt gefühlt. … Selbst wenn diese Objekte als äußere gefühlt werden, so werden sie durch Introjektion innere Verfolger und verstärken somit die Angst vor dem Zerstörungstrieb im Innern“. Diese Beschreibung kommt der Virusmetapher sehr nah. In der paranoid-schizoiden Position ist die Hauptangst, dass das verfolgende Objekt oder die verfolgenden Objekte in das Ich eindringen und nicht nur das Idealobjekt, sondern auch das Selbst überwältigen und vernichten können (Segal 1983, S. 45). Unter den Abwehrmechanismen, die gegen diese paranoide Vernichtungsangst entwickelt werden, nehmen Introjektion und Projektion eine vorrangige Bedeutung ein. Wird Verfolgung unerträglich, kann sie vollständig geleugnet werden. So eine magische Leugnung beruht auf einer fantasierten Totalvernichtung der Verfolger (Segal 1983, S. 46). Aktuell werden wir Zeuge, wie diese Auswirkungen des Coronavirus das Subjekt psychisch beeinflussen: Verleugnung, Spaltung, paranoische Verschwörungstheorien, freiwillige schizoide Isolation und die öffentliche Mundschutzdebatte.Footnote 6

Das Virus – aktuell das Coronavirus – lässt sich psychoanalytisch als Metapher für Fremdheit, Vertrautheit und Unheimlichkeit lesen. Der Prozess beziehungsweise die Bewegung des Eindringens in den Körper erinnert uns an die Begrenzungen des Kontrollierbaren. Fremdheit und Eigenheit funktionieren so Müller-Funk (2016, S. 17) nicht „länger im Sinn eines Gegensatzes oder einer Gegenüberstellung, bleiben doch beide Termini stets aufeinander verwiesen“.